Joe Biden fungiert offenbar als "Chef-Hinterfrager", der dafür sorgt, dass der US-Präsident auf dem Boden der Realität bleibt. Das ist allerdings auch mitunter nervend.
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Da US-Präsident Barack Obama nun endlich soweit ist, seine neue Entscheidung zum Afghanistaneinsatz der USA bekanntzugeben, ist es auch an der Zeit, die Rolle von Vizepräsident Joe Biden zu untersuchen. Dieser fungiert hier offenbar als Skeptiker vom Dienst, "Chef-Hinterfrager" nennt ihn ein Insider.
Biden sah schon bei der ursprünglichen Präsentation im März die Truppenaufstockungspläne der Regierung kritisch. Im Laufe der Monate hat er Obama mit seinen Zweifeln immer mehr angesteckt. Den Befürwortern der Aufstockungspläne ging Bidens Fragerei mitunter ziemlich auf die Nerven. Und sie sorgte für erhebliche Verzögerungen.
Obama arbeitet immer noch an den letzten Feinheiten. Aus Regierungskreisen heißt es, dass zwar zusätzliche Truppen entsendet werden sollen, um für mehr Schutz in afghanischen Ballungszentren zu sorgen, aber wahrscheinlich nicht die 40.000 Soldaten, die General Stanley McChrystal haben will. Begrenzter als ursprünglich geplant und auch zeitlich eingeschränkt soll der überarbeitete Plan sein, ganz dem Drängen Bidens entsprechend.
Biden hat sich durchgesetzt gegen eine Open-End-Strategie, die - wie auch ihre entschlossensten Unterstützer einräumen - möglicherweise nicht funktioniert. Obama scheint sich stattdessen für einen Konzepttest an Ort und Stelle entschlossen zu haben. Das Zeitlimit für dieses Experiment steht noch nicht fest, aber es dürfte weniger als die drei bis fünf Jahre betragen, die US-Befehlshaber für nötig halten.
Obama soll für die erste Phase der neuen US-Afghanistanstrategie sehr zuversichtlich sein, weniger jedoch für die darauffolgende Phase des Aufbaus und der Umgestaltung, wenn die Afghanen bereits selbst in der Lage sein sollen, die Kontrolle zu übernehmen. Darum wird es bei den Tests vor allem gehen. Und um Fragen wie: Kann Afghani stans Präsident Hamid Karzai die Korruption in den Griff bekommen und die Verwaltungsarbeit verbessern? Ist neben der militärischen Truppenaufstockung auch eine "zivile Aufstockung" an Hilfspersonal möglich? Gelingt es, die afghanischen Sicherheitskräfte rasch genug aufzubauen, damit sie rechtzeitig die Verantwortung übernehmen können?
Gegen das Austesten, was in der Praxis tatsächlich funktioniert und was nicht, haben die US-Militärbefehlshaber keineswegs etwas einzuwenden. Sie haben ganz im Gegenteil auch bisher bereits viel experimentiert, indem sie etwa Verwaltungs- und Entwicklungsprojekte organisierten.
So neu ist das alles nicht: Es ist die alte Versuch-Irrtum-Methode, die letztlich auch im Irak funktioniert hat, jedoch - wie US-Befehlshaber zu bedenken geben - nur gepaart mit ausreichend militärischer Stärke. Was die US-Truppen aber tatsächlich frustriert hat, ist die Unsicherheit, das politische Zögern und Zaudern, während sie einen Krieg auszukämpfen haben.
Biden und andere Skeptiker warnen vor einer sich ständig verschärfenden Eskalation in Afghanistan. Sie wollen keine weitere Ausbreitung, sondern ein Zusammenziehen der US-Truppen - und eine Prüfung, ob die Strategie überhaupt aufgeht. Selbst Biden scheint aber zu akzeptieren, dass dabei eine gewisse Truppenaufstockung notwendig ist.
Nächste Woche werden wir es genauer wissen. Dann werden wir sehen, wie Obama die Schlachtpläne seiner Befehlshaber mit der Abzugsstrategie seines Vizepräsidenten zusammenbringt. Ein Spagat zwischen Ja und Nein bringt nie viel Gutes. Aber wenn der lange Bearbeitungszeitraum eine klarere und realistischere Afghanistanstrategie zeitigt, dann war es das wert. Obama muss der Armee die Mittel geben, die sie für die von ihm erteilten Einsätze braucht.
Übersetzung: Redaktion