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Zu Recht sieht sich Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy derzeit der Kritik der EU-Kommission ausgesetzt. Auch wenn Fidel Castros Vorwurf des "Rassen-Holocaust" sicher überzogen ist, so erinnern die massenhaften Deportationen von Roma aus Frankreich doch an Zeiten, die in Europa längst überwunden geglaubt waren. Das gezielte Vorgehen gegen eine ethnische Gruppe, die aufgrund ihres sozialen Status und ihrer Lebensweise dem Nationalstaat unangenehm ist, stellt eine massive Menschenrechtsverletzung dar.
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Die vergleichsweise extrem milde ausgefallene Kritik der Europäischen Union zeigt jedoch, wie wenig die EU bis heute in der Lage ist, sich gegen wild gewordene Einzelstaaten durchzusetzen. Dabei geht es nicht nur um Frankreich. Italien lässt schon seit 2007 Roma-Siedlungen räumen. Auch in Österreich konnte Ende August Innenministerin Maria Fekter unwidersprochen davon faseln, kein "Taschengeld für Roma" ausgeben zu wollen. In Zeiten der Wirtschaftskrise scheint der Sozialneid gegen Arme in ganz Europa zuzunehmen.
Die Frage des Umgangs mit den europäischen Roma könnte zu einer Schlüsselfrage Europas werden. Die Roma sind schließlich so etwas wie Europäer par excellence. Während andere Europäer männerbündisch organisierte Nationalstaaten gründeten und mit Blut die Grenzen schrieben (4. Strophe der Kärntner Landeshymne), versuchten die Roma diesen nicht zum Opfer zu fallen. Vielsprachigkeit galt als lebensnotwendig und bereichernd - und nicht als Bedrohung des eigenen bornierten "Nationalcharakters".
Es ist kein Zufall, dass die Ressentiments gegen Roma und Juden, also die beiden kosmopolitischsten Gruppen Europas, im Zeitalter des Nationalismus rapide anwuchsen und sich im Falle der Juden im Antisemitismus als welterklärende Ideologie verdichteten, dass aber auch der Rassismus gegen Roma, oft auch als Antiziganismus bezeichnet, zum zentralen Element nationalistischer Ideologien wurde und schließlich auch die Roma dem nationalsozialistischen Vernichtungswahn anheimfielen.
Im Gegensatz zum Judentum haben die Roma jedoch auch nach dieser Katastrophe keine starke Nationalbewegung entwickelt. Es gibt kein Pendant zum Zionismus bei den Roma und damit auch keinen Staat, in den Roma im Notfall fliehen könnten. Ist es wirklich notwendig, einen Nationalstaat zu gründen, um gehört und respektiert zu werden?
Europa hätte die Chance zu beweisen, dass dies heute nicht mehr nötig wäre, wenn es die rund zehn Millionen Roma als gleichberechtigte Bürger und politische Subjekte wahrnähme und diese damit genauso als integraler Bestandteil Europas gesehen würden wie die Franzosen, Deutschen oder Österreicher.
Thomas Schmidinger ist Lektor am Institut für Politikwissenschaft der Uni Wien und derzeit Research Fellow an der University of Minnesota (USA).