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Die Romantik, neu gedeutet

Von Oliver vom Hove

Reflexionen

Die Autoren Stefan Matuschek und Rüdiger Görner ringen der Strömung um Novalis & Co neue Aspekte ab.


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Badende Nymphen aus einem Gedicht von John Keats (Illustration: Claude Shepperson) als romantisches Sinnbild (Ausschnitt) . . .
© getty images / Culture Club

Was "romantisch" ist, glauben viele zu wissen: ein Gefühlsüberschwang. Eine Betörung der Sinne. Ein Entrücktsein in Sphären wirklichkeitsenthobener Phantasie. Aber das Wort "romantisch" ist epochengeschichtlich ein Begriff mit Donnerhall. Ab 1800 leitete er eine Bewegung ein, die nach und nach den ganzen Lebensalltag der Menschen eroberte, die Wissenschaften und Philosophie ebenso wie Theater, Malerei, Musik, Bau- und Dichtkunst. Das Idealische und Schöngeistige sollte alle Alltagssphären durchfluten, das poetische Empfinden eine neue, lebenszugewandte Weltanschauung begründen.

Entsprechend vielfältig sind die Deutungsmuster, die die Epoche der Romantik geschichtlich zu fassen suchen. "Es gibt kein Gesamtbild im Singular, sondern viele verschiedene Perspektiven", bekundet der Jenaer Literaturwissenschafter Stefan Matuschek zu Beginn seiner neuen Romantik-Darstellung, "Der gedichtete Himmel". Und er legt sich auch gleich fest: "Es soll darum gehen, Romantik als Fortschritt zu begreifen. Der Akzent liegt auf der Innovation, die mit der Romantik in die Welt kommt."

Kraft der Imagination

In die Welt - das ist nicht, wie zuletzt in Rüdiger Safranskis großer Romantik-Studie, bloß "eine deutsche Affäre", sondern ein ganz Europa prägender Modus. Die Romantik, so Matuschek, füllte eine Lücke, die die Aufklärung hinterlassen hatte. Es ging um die "metaphysische Obdachlosigkeit", in der sich Geist und Seele nach der Entzauberung der Welt unbehaust zurückgelassen fühlten. Indes, nicht als Gegensatz zur Aufklärung soll die Romantik gesehen werden, sondern als komplementäre Ergänzung: "Als Konsequenz der Aufklärung und deren Selbstkritik entwickelt die Romantik eine ganz neue, kreative, subjektive und damit freie Form von Metaphysik. Insofern auch diese Art von Metaphysik zu unserer heutigen Kultur zählt, sind wir nicht nur Kinder der Aufklärung, sondern zugleich Erben der Romantik."

Am Anfang der romantischen Bewegung in Deutschland stand die Wanderung zweier studentischer Freunde. Ludwig Tieck und Wilhelm Heinrich Wackenroder, zwei Berliner Protestanten, entdeckten, indem sie die fränkische Landschaft bis Nürnberg durchstreiften, voll Begeisterung die Schönheit der Malerei des Mittelalters und ergingen sich in ehrfurchtsvollen Gefühlen gegenüber den Bildwerken. In seiner kleinen Schrift mit dem verschroben klingenden Titel "Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders" erweiterte der 20-jährige Wackenroder diese Betrachtung zur religiösen Kunstandacht und zum Appell, die Bilderkenntnis als innere Einkehr und demutsvollen "Kunstgottesdienst" zu nützen. "Kunstwerke passen in ihrer Art so wenig als der Gedanke an Gott in den gemeinen Fortfluss des Lebens; sie gehen über das Ordentliche und Gewöhnliche hinaus, und wir müssen uns mit vollem Herzen zu ihnen erheben."

Damit wird früh die Richtung erkennbar, in der die Romantik eine zivilreligiöse, erfindungsreiche Vereinigung von subjektiver Selbsterforschung und selbstgemachter Transzendenz anstrebt. Es ist die Epoche, in der das Individuum seine Untiefen entdeckt und zugleich die religionsstiftende Kraft der Imagination feiert. "Romantik ist die Kunst, metaphysische Luftschlösser zu bauen", formuliert Matuschek provokant.

Die Novalis-Büste der Grabstätte des Dichters in Weißenfels in Sachsen-Anhalt.
© Unbekannt

Empfindsamkeit ist das Schlüsselwort, das den Zugang zum romantischen Wissen erschließt. Der Zauber von Novalis oder Eichendorff etwa öffnet sich durch ihre Innerlichkeit, ihre Verbundenheit mit der Natur und ihr Verhältnis zur Magie. "Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehen, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe, so romantisiere ich es", bekennt Novalis programmatisch. Und Eichendorff beschwört emphatisch die magische Sprachkraft der Weltverwandlung: "Schläft ein Lied in allen Dingen,/die da träumen fort und fort./Und die Welt hebt an zu singen,/triffst Du nur das Zauberwort." In ihrer bereits 1899 erschienenen, bahnbrechenden Romantik-Studie sah Ricarda Huch diese Poetisierung der Wirklichkeit "aus der Wechselwirkung zwischen dem Bewussten und Unbewussten entspringen".

Reger Austausch

Der führende Theoretiker der frühen Romantik war Friedrich Schlegel. Er forderte eine "progressive Universalpoesie" und schuf damit die Idee einer grenzenlosen, rational nie ganz fassbaren Kunst. Ihm ging es um nichts Geringeres als um "den Zusammenhalt und die innere Einheit des Zeitalters", darum, "dass die Menschheit aus allen Kräften ringt, ihr Zentrum zu finden". In seinen Wiener Vorlesungen bezog er zudem das Mittelalter, das die Romantiker so begeisterte, in die Neuzeit ein. Damit wurde die Gotik mit ihrem himmelstrebenden Baustil neu bewertet und in den Beginn des dynamischen Prozesses der Gegenwart einbezogen, der in die Moderne führt.

© Reclam Verlag

"Europäischer gestimmt war man nie als in der (frühen) Romantik, dieser Fortsetzung der Aufklärung mit anderen Mitteln und Themen", bemerkt auch Rüdiger Görner in seiner Romantik-Darstellung. Der in London lehrende Germanist wirbelt darin nach Herzenslust enzyklopädisches Wissen und lebenskundliche Anekdoten durcheinander, und aus dem Gestöber formt sich das Bild eines regen Austauschs von Haltungen, Themen, Motiven und Stilen zwischen Schottland und Italien, Frankreich und Deutschland sowie - hier leider nur am Rande - Russland. Dabei bezieht Görner neben der Literatur auch die romantischen Strömungen in der Musik, der bildenden Kunst und - in einem eigenen Exkurs - des Tanzes ein.

Die englische Romantik setzt mit den lyrischen Emanationen der Lake Poets William Wordsworth und Samuel Coleridge ein und wird später vollends raumverdrängend von Lord Byron verkörpert. Er wie auch John Keats oder Mary und Percy B. Shelley bezogen Europa eng in ihre Dichtung ein, zumal sie auch vorwiegend dort lebten. Auch in Frankreich setzte sich die grenzüberschreitende Romantik vielfach durch, nicht nur in der Wirkung von Heine und E.TA. Hoffmann etwa auf Théophile Gautier oder Gérard de Nerval, sondern auch, über Vermittlung seiner Geliebten Madame de Staël, auf Benjamin Constants seelenanalytische Novelle "Adolphe".

Die politische Romantik

"Das Schönste, Reizendste und Größte, was es im Menschenleben gibt, ist das Geheimnisvolle", schwärmte der Frühromantiker Chateaubriand und verwies damit auf eine wesentliche Region der Romantik: das Dunkle, Nachtseitige und Abgründige. Der Italiener Mario Praz (der in beiden Büchern nicht vorkommt) hat einst diese "Schwarze Romantik" grundlegend dargestellt.

© C.H. Beck

Nicht nur in Deutschland und Italien, sondern auch in anderen europäischen Ländern wuchs aus der Dominanz der französischen Kultur und der Napoleonischen Besatzung der Wunsch nach nationaler Einheit und Freiheit. Daraus entstand ein "Zusammenschluss von Literatur und Nationalbewusstsein" (Matuschek), aber auch eine "Europäisierung der politischen Diskurse bei gleichzeitiger Nationalisierung des Denkens" (Görner). Besonders deutsche Romantiker sahen sich, stärker als andere, in den Widerstreit zwischen Universalismus und Partikularismus hineingezogen. Ihre oft resignative Haltung nach den Karlsbader Beschlüssen 1819 steht im Gegensatz zur Aufbruchstimmung der Romantik in Frankreich um 1830. In Österreich litt Franz Grillparzer unter dem Metternich’schen System und fürchtete zugleich das Auseinanderfallen des Habsburgerreichs in widerstreitende Nationalismen.

Sich selber sahen die Romantiker stets als Suchende. Ein Satz von Novalis spricht es nicht ohne Wehmut aus: "Wir suchen überall das Unbedingte und finden immer nur Dinge." Der gedichtete Himmel war eben zuweilen auch kräftig bewölkt.

Literatur:

Stefan Matuschek: Der gedichtete Himmel. Eine Geschichte der Romantik. Verlag C.H. Beck, München 2021, Ln., geb., 389 S., 28,80 Euro.

Rüdiger Görner: Romantik. Ein europäisches Ereignis. Verlag Reclam, Stuttgart 2021, Ln., geb., 384 S., 26,80 Euro.

Oliver vom Hove, in Großbritannien geboren, aufgewachsen in der Schweiz und in Tirol. Lebt als Dramaturg, Literaturwissenschafter und Publizist in Wien.