Gemischte Gefühle in der Sonderverwaltungszone. | Wirtschaft boomt, Demokratie hinkt hinterher. | Hongkong. Es war ein dunkler und stürmischer Abend gewesen. Auf dem Gesicht von Christoffer Patten, dem letzten britischen Gouverneur der Kronkolonie, waren Tränen und Regentropfen bald kaum noch zu unterscheiden. Kaum war der 1. Juli 1997 angebrochen, fuhren Patten und Prinz Charles mit der "HM Britannia" aus dem Hafen von Hongkong. Am Kai standen Jiang Zemin und Li Peng, Chinas Präsident und Ministerpräsident. Sie waren erst wenige Stunden zuvor mit ihren Jumbojets aus dem nur 30 Kilometer entfernten Shenzen eingeflogen. Wenige Stunden später, um vier Uhr morgens, sollten dann 4000 chinesische Soldaten die Grenze überschreiten. Die letzte Perle des britischen Kolonialreichs ging nach 156 Jahren zurück an das Mutterland.
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Ein Land, zwei Systeme
Chris Patten hatte in seiner Abschiedsrede die Volksrepublik gewarnt, dass sie sich ein Kuckucksei ins Nest geholt habe: "Hongkongs Werte werden die zukünftigen Werte Asiens sein", hatte Patten erklärt. Weniger vorsichtig ausgedrückt: Die Samen des Kapitalismus und der Demokratie würden von Hongkong aus auch die andern Teile Chinas erfassen. Was ist daraus geworden?
"Wir waren 1997 verunsichert", sagt Chris Yeung, Redakteur der "South China Morning Post", der größten englischsprachigen Zeitung der Stadt. "Wir wussten nicht, was uns erwartet." Großbritannien hatte die Rückgabe an Bedingungen geknüpft: Hongkong sollte sich selber regieren, seine Bürger keine Steuern an Peking bezahlen, das Rechtswesen sollte wie bisher erhalten bleiben. "Ein Land, zwei Systeme", das war der Grundgedanke Deng Xiaopings gewesen, als er in den 80er Jahren die Rückgabe mit Margaret Thatcher aushandelte. Er sollte mindestens für ein halbes Jahrhundert gelten.
Zehn Jahre sind vergangen, und Hongkong ist immer noch Hongkong. Chris Yeung kann noch immer seine Kommentare schreiben. Die Richter der Stadt tragen noch immer Perücken wie zu britischen Zeiten und setzen noch immer das gleiche Recht um. Aber die Unsicherheit ist geblieben.
Erster Gegenkandidat
Alan Leung kann ein Lied davon singen. Er verkörpert in den Augen vieler Hongkonger das gebrochene Versprechen Pekings. Ende März trat er bei der Wahl des Regierungschefs gegen Amtsinhaber Donald Tsang an - der erste Gegenkandidat in der Geschichte der Sonderverwaltungszone überhaupt. Er hatte keine Chance, von den 800 handverlesenen Wahlmännern vor allem aus der Wirtschaftselite Hongkongs gewählt zu werden - zu sehr fürchten die Geschäftsleute, Peking zu verärgern. Dennoch bekam er 132 Stimmen. "Das war bereits ein Fortschritt", sagt der 49-Jährige mit starkem britischem Akzent. Leung hofft auf eine freie Wahl wenigstens beim nächsten Mal, 2012. Das Interesse seiner Mitbürger ist noch immer nicht erlahmt. Noch immer registriert seine Internetseite bis zu 4000 Besuche pro Tag.
Aber hat Peking überhaupt freie Wahlen versprochen? "Ganz klar", sagt Martin Lee, Gründer der Demokratischen Partei, und Mitglied des "LegCo", des Gesetzgebenden Rates. "Es bestand volle Einigkeit, dass für die Wahl zum Regierungschef 2007 und für den LegCo 2008 das allgemeine Stimmrecht eingeführt werden sollte." In den ersten Jahren habe sich Peking auch nicht in Hongkongs Angelegenheiten eingemischt, ganz wie versprochen. "Doch dann kam die Demonstration von 2003."
Es war eine schwere Zeit für die Stadt gewesen. Die Aktienkurse und die Immobilienpreise waren infolge der Asienkrise zusammengebrochen. Die Sars-Epidemie hatte 199 Menschenleben gefordert. Regierungschef Tung Chee Hwa wurde beschuldigt, korrupt zu sein. Und dann kam der Vorschlag eines neuen Sicherheitsgesetzes.
Dieses hätte nach Meinung der Opposition den Einfluss der Hongkonger beschnitten und die Macht Pekings erhöht. Eine halbe Million Menschen ging am 1. Juli, dem sechsten Jahrestag der Übergabe an China, auf die Straße. Das Sicherheitsgesetz verschwand tatsächlich in einer Schublade. Aber Peking habe realisiert, welchen Einfluss die Demokraten in der Stadt haben. Im April 2004 wurden die freien Wahlen für 2007 gestrichen. "Das war der schwerste Tag meiner Laufbahn", sagt Lee.
Dennoch: In Hongkong gibt es mehr politische Rechte als auf dem Festland. Und sie werden nicht nur von Hongkongern in Anspruch genommen. Vor dem Sitz von Regierungschef Tang steht eine Handvoll Festlandchinesen. Sie haben ein Bild Mao Zedongs vor sich aufgehängt, des Gründers der Volksrepublik. "Sie sind illegal hier", sagt Chang, ein Polizist. "Sie wollen eine Aufenthaltserlaubnis, um legal arbeiten zu können." Das Mao-Bild soll darauf hinweisen, dass Hongkong Teil Chinas ist. Die Polizei greift nicht ein. "Wir tun das nur, wenn wir unbedingt müssen", sagt Chang.
Kein unabhängiges Land
Regina Ip weist den Vorwurf zurück, Peking habe seine Versprechen gebrochen. Es sei nie die Rede gewesen von freien Wahlen 2007. "Das Problem mit Leuten wie Martin Lee ist, dass sie Hongkong als ein unabhängiges Land ansehen. Und das ist es nicht. Hongkong ist Teil Chinas." Regina Ip war in der ersten Hälfte des Jahrzehnts Sicherheitsministerin Hongkongs gewesen und damit verantwortlich für das umstrittene Sicherheitsgesetz. "Wir haben ein hohes Maß an Selbstbestimmung. Unsere Lebensweise hat sich nicht geändert."
Wachstum dank China
Doch die Bande zu China werden immer enger, auch wirtschaftlich. Das hohe Wachstum der Volksrepublik half Hongkong, die schwere Krise zu überwinden. Seit 2003 geht es wieder aufwärts. Auch diejenigen, die wegen der Übergabe an die Volksrepublik die Stadt verlassen haben, kommen wieder zurück. Zu ihnen gehört Stanley Lau. Er hat 13 Jahre in Kalifornien gelebt. "Hongkong hat sich sehr verändert, seit ich damals gegangen bin." Nicht unbedingt zum Besseren: Schmutziger sei es geworden. Der Einfluss Chinas sei stark. "Wir sind weniger frei als unter den Briten", sagt Lau.
Eine der großen Herausforderungen der Zukunft wird die Identität Hongkongs sein. Denn auch China hat sich verändert, ist offener und vor allem kapitalistischer geworden. Das stellt die bisherige Rolle der "Sonderverwaltungszone" in Frage, die sich als Tor zu China sieht. "China übernimmt immer mehr Rollen, die zuvor Hongkong hatte. Ausländische Firmen gehen jetzt oft direkt nach China", sagt Chris Yeung. "Unsere Selbstsicherheit der goldenen 70er und 80er Jahre ist weg."
Hongkong ist noch immer etwas Spezielles. Ein Blick vom Hafen in Kowloon auf die Silhouette Hongkongs auf der andern Seite genügt. Vor dem grünen Peak, der höchsten Erhebung der Insel mit seinen 554 Metern, ragt das 407 Meter hohe Internationale Finanzzentrum in die Höhe. Viele andere Hochhäuser sind ebenfalls hinzugekommen. Die Stadt ist immer noch ein Ort, an dem sich West und Ost treffen, um Geschäfte zu machen. Aber die Regeln werden immer mehr vom Osten vorgegeben.
Wissen:Hongkong
Die Sonderverwaltungszone Hongkong an der Mündung des Perlflusses umfasst ein Territorium von 1104 Quadratkilometern. Nur ein Viertel davon ist bebaut. Parks und Naturreservate machen 40 Prozent aus. Der Victoria-Hafen zwischen der Insel Hongkong und Kowloon gehört zu den tiefsten Häfen der Welt, ein Grund für die Attraktivität der Stadt für den internationalen Handel.
Mit 6,8 Millionen Einwohnern ist Hongkong das drittdichtest besiedelte Gebiet der Welt. Nur Monaco und das benachbarte Macao sind dichter besiedelt.
Das Bruttosozialprodukt erreicht mit 38.000 Dollar (28.000 Euro) europäisches Niveau. Großbritannien besetzte 1841 die Insel Hongkong. 1898 kamen die "Neuen Territorien" mit einer Pacht über 99 Jahre hinzu. 1997 fiel das gesamte Gebiet an China zurück.
Heute wird in Hongkong nur die Hälfte der Abgeordneten des Quasi-Parlaments - des Legislativrats - gewählt. Der Verwaltungschef wird von einem 800-köpfigen Kollegium benannt, das Peking weitgehend besetzt. Der unbeholfen agierende Regierungschef und Ex-Reeder Tung Chee Hwa, den Peking 1997 eingesetzt hatte, wurde 2005 durch den erfahrenen Donald Tsang ersetzt. Der Finanzfachmann arbeitete seit 1967 in der Hongkonger Verwaltung.
Hongkong ist unverändert ein eigenes Zollgebiet, besitzt seine eigene Währung und gehört der Welthandelsorganisation und dem Internationalen Olympischen Komitee als eigenständiges Mitglied an.
Zur Zehn-Jahr-Feier reist Chinas Präsident Hu Jintao am Sonntag an. Bei den Feierlichkeiten wird unter anderem ein neues Kabinett angelobt. Auch werden zwei Riesenpandas als Geschenk übergeben. Demokratiebefürworter wollen den Jahrestag mit einer Demonstration für freies Wahlrecht begehen, zu der Tausende erwartet werden.