In der Schlacht um Falluja leistet der IS erbitterten Widerstand. Die Zivilbevölkerung gerät ins Kreuzfeuer.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 8 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Falluja. Nur die Flüchtlinge können berichten, was wirklich in Falluja los ist. Handynetze und Internet sind abgeschaltet. Strom ist rationiert. Wasser gibt es auch nur selten. Lebensmittel kommen gar keine mehr in die Stadt. Das, was es noch zu kaufen gibt, ist so teuer, dass es sich die meisten nicht leisten können. Die Menschen in Falluja werden buchstäblich ausgehungert. Und das schon seit über drei Monaten. Denn so lange dauert die Belagerung der nach Mossul zweitgrößten Stadt, die die Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS) unter ihrer Kontrolle hat. Vor zwei Tagen startete die irakische Armee ihre Großoffensive zu ihrer Rückeroberung. Falluja ist gleichzeitig die erste Stadt, die der IS eingenommen hat. Schon im Jänner 2014 patrouillierten erstmals die Gotteskrieger mit ihrer schwarzen Fahne durch die Straßen der ehemals 330.000 Einwohner zählenden Sunnitenmetropole in Iraks flächenmäßig größter Provinz Anbar. In Falluja fing alles an. Mossul eroberten sie im darauffolgenden Juni.
Schon rollt die nächste Flüchtlingswelle auf Bagdad und den Süden Iraks zu. Zwar sind bisher nur etwa 3500 Menschen zumeist aus der Umgebung Fallujas geflohen, in den Stadtkern sind die Truppen noch nicht vorgedrungen. Doch ist mit einem Anschwellen der Zahlen in den nächsten Wochen zu rechnen, je länger die Kämpfe dauern. Die UNO ist besorgt über die Situation in Anbar. "Tausende Menschen, die monatelang eingeschlossen waren, versuchen nun in Sicherheit zu gelangen", sagt Lise Grande, Koordinatorin für die humanitäre Hilfe bei den Vereinten Nationen. "Wir haben aber noch keinen kompletten Zugang zu den Menschen und haben Angst um ihre Sicherheit." Viele der Familien suchen Schutz in den ohnehin schon überfüllten Camps und provisorischen Siedlungen in und um Ameriat al-Falluja, Habbanija und an der Bzebiz-Brücke.
Rollende Bomben
Doch jetzt ist die Offensive erst einmal ins Stocken geraten. Die Regierungssoldaten sind in Stellung gegangen. "Die Schlacht um Falluja ist anders als all die anderen Kämpfe, die die irakische Armee gegen den IS führt", sagt Qassim al-Tamima dem irakischen Nachrichtenportal "Niqash". Er ist Offizier der Ersten Brigade und seit mehreren Monaten in den Außenbezirken von Falluja stationiert. Mit insgesamt vier Divisionen hat die Armee seit März die Stadt eingekreist und belagert. Das Kalkül der Militärführung, die Einwohner Fallujas würden sich aufgrund der schlechten Versorgungslage gegen den IS erheben, ging jedoch nicht auf. "Es gibt einige Faktoren, die den Extremisten in die Hände spielen", sagt al-Tamimi. "Unsere Informationen besagen, dass etwa 2000 IS-Kämpfer in der Stadt sind, etwa die Hälfte sind Ausländer." Die Militärfahrzeuge, über die sie verfügten, seien von der irakischen Armee gestohlen worden, als der IS Mossul überfiel. Al-Tamimi beziffert die Zahl der Fahrzeuge auf etwa 500, die jetzt mit Sprengstoff gefüllt würden und explodierten, sobald die irakische Armee sich der Stadt nähere.
Für die geschätzten 50.000 Zivilisten, die Falluja eingeschlossen sind, spitzt sich die Lage derweil offenbar dramatisch zu. Der Generalsekretär des Norwegischen Flüchtlingsrats (NRC), Jan Egeland, warnt vor einer Katastrophe für die Menschen, vor größeren "Fluchtwellen, je heftiger die Kämpfe werden". Die Lage in den Flüchtlingslagern sei "sehr angespannt". Je mehr Menschen sich auf die Flucht begäben, desto schwieriger werde die Trinkwasserversorgung. Von den insgesamt 3,4 Millionen Binnenflüchtlingen im Irak kommen die meisten laut der Internationale Organisation für Migration (IOM) aus der Provinz Anbar (43 Prozent). In Anbar toben derzeit die heftigsten Kämpfe zwischen dem IS und den Regierungstruppen. Über 80 Prozent der Provinz, die an Syrien grenzt und dem ausgerufenen Gottesstaat ein zusammenhängendes Terrain bietet, hatte die Terrormiliz einst erobert. Jetzt verliert sie es mehr und mehr. Schritt für Schritt kommen die Soldaten der irakischen Armee zusammen mit schiitischen Milizen, sunnitischen Stammesverbänden und US-Luftangriffen voran, wenn auch in bescheidenem Maße. Die Rückeroberung der Provinzhauptstadt Ramadi zog sich über acht Monate hin.
Gefährliche Nähe zu Bagdad
Was den Kampf um Falluja anders macht als die anderen Kämpfe gegen den IS, ist auch seine Nähe zu Bagdad. Es sind nur gut 50 Kilometer. Eine direkte, schnurgerade Verbindungsstraße ließ die beiden Städte fast nahtlos zusammenwachsen - ein riesiges Sicherheitsproblem. Die vermehrten Anschläge des IS in den letzten Tagen in Bagdad beweisen dies. Trotzdem hatten die Regierung und das Führungskommando der Armee immer wieder betont, dass die Hauptstadt vor der Terrormiliz sicher sei. Ende Februar allerdings griffen IS-Kämpfer Abu Ghraib an, ein Vorort von Bagdad und plünderten ein Getreidesilo. Mit ihrer dringend benötigten Beute kehrten sie schnell nach Falluja zurück und stellten so die Versorgung der Bevölkerung zunächst einmal sicher. Doch der Schock, dass nur acht Kilometer vor den Toren Bagdads ein derartiger Überfall gelingen konnte, scheint Politiker und Militärs in der Hauptstadt nachhaltig verunsichert zu haben, sodass Premier Haider al-Abadi entgegen der Einschätzung amerikanischer Militärberater den Befehl zum Angriff auf Falluja gab.