Zum Hauptinhalt springen

Die Rückkehr der Vergangenheit ins Internationale Recht?

Von Roland Benedikter und Andrea Unterweger

Gastkommentare

Grenzstreit Bolivien-Chile: Internationaler Gerichtshof gegen Chile. Ein Präzedenzurteil mit Folgen?


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 9 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Am 23. September gab der Internationale Gerichtshof (IGH) in Den Haag der Klage Boliviens im Streitfall gegen Chile über einen Zugang zum Pazifik statt. Zugleich wies das - zumindest der Form nach - höchste Gericht internationalen Rechts den Antrag Chiles zurück, der IGH sei in dieser Sachlage nicht zuständig. Chile muss infolge dieses Urteilspruchs mit Bolivien über einen Zugang zum Pazifik verhandeln. Dieses Präzedenzurteil könnte weitreichende Folgen zeitigen – und im Extremfall die Rückkehr der Vergangenheit ins Internationale Recht bedeuten. Die Frage ist, ob die Entscheidung eine Welle von Revisionismen und Territorialforderungen auslöst, und ob solche in der Folge auch in Europa in Gang kommen könnten.

Worum genau geht es?

Bolivien büßte seinen territorialen Meereszugang vor mehr als 130 Jahren im verlorenen Salpeterkrieg 1879-1883 gegen Chile ein. Die Selbsterklärung der Zuständigkeit des IGH, die der französische Vorsitzende Ronny Abraham damit begründete, dass "die Angelegenheiten dieses Streits nicht bereits durch Arrangements zwischen den Seiten geklärt... oder durch die in Kraft befindlichen Verträge geregelt sind", erfolgte, indem sich 14 gegen 2 Richter dafür aussprachen. Damit wurde der bisherige diplomatische und politische Disput zum offiziellen Streitfall internationalen Rechts. Ein wahrscheinlich jahrelanger Prozess steht bevor.

Minuten nach der Urteilsverkündung äußerte sich Chiles Präsidentin Michelle Bachelet: "Diese Ansprüche sind haltlos. Bolivien verwechselt hier Recht mit Ambitionen. Boliviens Anspruch verzerrt die Geschichte zwischen Chile und Bolivien völlig."

Die Crux ist, dass es für diese ablehnende Haltung Chiles genauso gute Gründe wie für die Klage Boliviens gibt. Chile argumentiert, der IGH habe keine Zuständigkeit, weil die Grenzen zwischen den beiden Ländern bereits 1904 im sogenannten "Vertrag für Frieden und Freundschaft" vertraglich geregelt wurden. Außerdem genießt Bolivien bereits heute kostenlosen territorialen Transit durch Chile sowie kostenlose Hafendienste.

Bolivien dagegen beruft seine Forderungen auf diplomatische Gespräche mit Chile in den 1970iger Jahren. Es macht geltend, dass die Tatsache, dass es damals überhaupt Gespräche über das Thema gegeben habe, bereits die Anerkennung Chiles sei, dass es einen Streitfall und also eine offene Frage gebe. Bereits im Jahr 2013 forderte Bolivien Chile auf, vor dem IGH über 400 km seines Küstenstreifens zu verhandeln, der vor 1904 - also vor 111 Jahren - Teil des Bolivianischen Territoriums war.

Beide Seiten verteidigen in der Sache wichtige Interessen. Chile ist das einzige OECD-Land Lateinamerikas und wird trotz innenpolitischen Umbruchs und der größten sozialen Ungleichheit aller OECD-Staaten aufgrund seiner wirtschaftlichen Vorreiterrolle als Rollenmodell für die Entwicklung Lateinamerikas und des Globalen Südens verstanden. Die Linksregierung von Michelle Bachelet, die im Dezember 2013 mit mehr als 62% als erste Frau zum zweiten Mal zur Präsidentin gewählt wurde und damals (erneut) als Hoffnungsträgerin galt, ist inzwischen durch Korruptionsskandale geschwächt. Sie fürchtet bei Territorialverlusten einen breiten Rechtsruck in der Bevölkerung und der öffentlichen Meinung, was ihre ohnehin stockende Reformagenda bis zu den nächsten Präsidentschaftswahlen 2017 endgültig unmöglich machen könnte.

Für Bolivien hingegen ist der Zugang zum Pazifik eine Möglichkeit zur Steigerung seiner Exporte im internationalen Handel. Bolivien behauptet, dass es durch den nicht souveränen Zugang zum Pazifik hohe Einbußen im Wirtschaftswachstum erleidet. Eine souveräne Pazifikküste würde das Land dagegen zu einem eigenständigen Akteur im Welthandel machen. In der Tat stellt die heutige Abhängigkeit Boliviens, über Chile mit dem Pazifischen Ozean verbunden zu sein, etwas Konträres zu einem Pazifikstaat dar, der in der Lage ist, Völkerrechtspakte mit eigenen handelspolitischen Zielen abzuschließen.

Insgesamt würden sich die beiden Kontrahenten Bolivien und Chile in ihrer Wirtschaftsentwicklung gut ergänzen, wenn sie gemeinsam und zu wechselseitigem Vorteil agieren würden. Das Gegenteil ist jedoch der Fall. Chile bezieht unter anderem eben aufgrund der noch nicht beigelegten Territorialspannungen kostspielig Gas aus Australien und Indonesien, statt preiswerteres aus Bolivien zu importieren.

Worin liegt die Perspektive? Ist das Urteil des IGH vom 23. September haltbar? Und vor allem: Ist es in seiner Präzedenz- und Vorbildwirkung bezogen auf eine langfristig nachhaltige internationale Entwicklung sinnvoll?

Klar ist: Bolivien möchte diesmal nicht wie bereits vergangene Regierungen des Landes versuchen, den Friedensvertrag von 1904 vor dem IGH neu aufzurollen. Die Klage stützt sich vielmehr auf die These, der Meereszugang sei weder im besagten Friedensvertrag noch in sonstigen Verträgen ausdrücklich erwähnt und folglich das Recht Boliviens auf einen Meereszugang zwischen dem 23. und dem 24. Breitengrad immer noch aufrecht. Bolivien respektiert somit laut eigener Darstellung bestehende internationalen Verträge. Chile ist diametral entgegengesetzter Ansicht.

Unabhängig vom Ausgang des Verfahrens ist insgesamt eine problematische Entwicklung zu befürchten. Andere Länder könnten, dem Beispiel Boliviens folgend, nun auf dem Rechtsweg versuchen, über ihrer Meinung nach unrechtmäßige Grenzverläufe neu zu verhandeln – auch wenn deren Errichtung, einschliesslich damaliger Definitions-, Sprach- und Detailkriterien, 100 Jahre oder mehr zurückliegt.

Der Rechtsweg über schriftliche Verhandlungsdokumente als Anfechtung einseitiger Hoheitsakte ist auf internationaler Ebene durchaus einklagbar, wenn auch relativ jung. So sicherte etwa in den 1970 Jahren Frankreich zumindest formal zu, dass es keine weiteren Atombombentests im Südpazifik durchführen würde. 1974 formulierten Australien und Neuseeland eine Klage auf Basis dieses Versprechens Frankreichs, trotzdem durchgeführte Tests zu unterlassen. Der IGH in Den Haag sprach sich für Australien und Neuseeland aus, und so musste Frankreich sein Vorgehen einstellen.

Auch für Bolivien, das seinen Anspruch wesentlich auf einen Brief des damaligen chilenischen Diktators Pinochet an den bolivianischen Präsidenten Banzer im Jahr 1975 stützt, scheint dieser Rechtsweg plausibel, wenn auch neu. In jenem Brief erklärte sich Chile bereit, mit Bolivien über einen souveränen Meereszugang zu diskutieren.

Die Selbsterklärung der Zuständigkeit des IGH, die in weiterer Folge Chile die Pflicht auferlegt, mit Bolivien zu verhandeln, bedeutet nicht, das Bolivien bereits einen Sieg verzeichnen kann. Denn es wurde kein Zuspruch eines souveränen bolivianischen Pazifikzugangs erteilt. Ein Urteilsspruch aus dem Jahr 2014 lässt Bolivien jedoch hoffen. Damals hatte sich der IGH nämlich in einem ähnlichen Verfahren, das zwischen Peru und Chile geführt wurde, für Peru ausgesprochen, und so muss die Seegrenze zwischen Peru und Chile vor der Pazifikküste Südamerikas neu gezogen werden.

Der Fragen bleiben viele. Gilt für den Internationalen Gerichtshof: Zwischen Regionalmächten können solche "100-Jahr-Revisionen" diskutiert werden, nicht aber zwischen Großmächten - da bei ersteren, wie im Fall Bolivien-Chile, die Konflikte naturgemäß begrenzt bleiben, bei letzteren aber auszuufern drohten, wie etwa im Fall China-Indien oder Indien-Pakistan? Das wäre politisch und strategisch verständlich, würde allerdings dem Gleichheitsprinzip als Grundlage der Rechtsprechung zuwiderlaufen. Steuert die internationale Gemeinschaft also mit diesem Urteil auf eine nach Macht- und Kontextverhältnissen "differenzierte" Rechtssprechung hin?

Weiters: Stellt sich der Internationale Gerichtshof damit nicht zumindest aus der Sicht der Interessen der Großmächte, die ihre Grenzen und Territorialansprüche nie vor einem internationalen Gericht diskutieren würden, ein Stück weit ins Abseits - und damit teilweise auch das internationale Recht insgesamt? Denn mit diesem Präzedenzurteil kann praktisch jeder Friedensvertrag der Moderne mindestens seit dem 19. Jahrhundert neu aufgerollt werden per Gerichtsantrag, auch wenn er - wie im Fall des bolivianisch-chilenischen Disputs - 110 Jahre zurückliegt. Wenn das Schule macht: Würde das mittel- bis langfristig zur Destabilisierung zwischen Nationalstaaten und zur Revision von lange zurückliegenden Friedensvereinbarungen in vielen Regionen der Erde führen? Oder wird hier einfach nur mit mehrerlei Mass gemessen: die Lateinamerikaner können das tun, die Europäer nicht?

Das wäre eine problematische Entwicklung. Andere Länder, die den bolivianisch-chilenischen Disput als Präzedenzfall für sich nutzen könnten, gibt es viele. Die Beispiele für trotz Abkommen weiterhin umstrittene Grenzverläufe sind zahlreich, nicht nur in Lateinamerika und Afrika, sondern auch in Europa. Ein Beispiel ist etwa Gibraltar, das zwischen Spanien und Großbritannien umstritten ist. Würde der IGH ein derartiges Zuständigkeitsurteil auch gegen Großbritannien fallen? Und wie würde die nach wie vor global dominante anglo-amerikanische Welt darauf reagieren? Ein anderes Beispiel sind die umstrittenen Territorialforderungen Chinas in der süd- und ostchinesischen See, die 2014 unter anderem in der einseitigen Erklärung von "Identifikationsgebieten zur Luftverteidigung" (ADIZ) im internationalen Luftraum und über internationalen Schifffahrtswegen gipfelten: Können sie durch Gerichtsklagen vor dem IGH von den weit weniger mächtigen Anrainerstaaten eingegrenzt oder gar verhindert werden?

Klar scheint: Wenn das Beispiel international Schule macht, dann könnten - bei allem Verständnis für die bolivianische Sache - international neue Konfliksituationen aus der Vergangenheit heraus drohen, die so an sich nicht notwendig gewesen wären.

Daraus ergeben sich in Blickrichtung der weiteren Entwicklung internationalen Rechts die Fragen: Welche Rolle kann künftig der Internationale Gerichtshof spielen? Vor allem: Soll er sich in erster Linie der Neuaufrollung der Vergangenheit oder der Gegenwart und Zukunft widmen? Soll es eine Verjährungsklausel im internationalen Recht geben, um Revisionismen zu verhindern? Und wenn ja: Auf welche Fälle kann und soll sie angewendet werden, auf welche nicht? Wie verhält sich der Internationale Gerichtshof künftig zu anderen Rechtsorganen? Und welche Macht soll er tatsächlich haben? Kann und soll er "der" Vertreter internationalen Rechts sein - was von dominanten Großmächten wie den USA oder China stets verneint wurde und bis heute zumindest aktiv ignoriert wird - oder nicht? Und nicht zuletzt: Wie kann sichergestellt werden, dass der Internationale Gerichtshof mit gleichem Massstab misst – für Lateinamerika ebenso wie für Europa, Afrika, die USA oder Ostasien?

Die wichtigste Frage bleibt aber wohl, ob all diese Fragen angesichts der heutigen internationalen Asymmetrie der Machtverhältnisse überhaupt sinnvoll sind – und ob sie sich so überhaupt stellen lassen werden. Für das Internationale Recht, ohnehin das Stiefkind der Weltpolitik und noch immer das unterentwickelte Kleinkind der Rechtssprechung, könnte sich das Urteil des Internationalen Gerichtshofs zur formalen Zulassung des Disputs Bolivien-Chile jedenfalls als zweifelhafter Fortschritt erweisen.

Die Autoren

Benedikter ist Autor des neuen Buches: Chile in Transition: Prospects and Challenges for Latin America’s Forerunner of Development (Springer International New York, September 2015, Chile in Transition: Prospects and Challenges for Latin America's Forerunner of Development). In dieser gemeinsam mit Katja Siepmann und Miguel Zlosilo verfassten interdisziplinären Länderstudie zeichnet er ein umfassendes Bild von Stand und Perspektiven des einzigen lateinamerikanischen OECD-Landes in Politik, Wirtschaft, Finanzwesen, internationalen Beziehungen, Kultur, Umwelt und in der sozialen Sphäre, analysiert das chilenische Entwicklungs- und Reformmodell und seine Vorbildwirkung für Lateinamerika und den Globalen Süden und zeigt Wege zu einer nachhaltigen Entwicklung auf. Benedikter ist Senior Scholar des Council on Hemispheric Affairs Washington DC, des führenden liberalen Think-tanks der USA zu inter-amerikanischen Beziehungen, und Vollmitglied des Club of Rome. Kontakt: rolandbenedikter@yahoo.de. Andrea Unterweger ist Juristin mit Spezialisierung auf internationalem Recht in Innsbruck und Bozen. Kontakt: andrea.unterweger@hotmail.com.