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"Die Lage ist jetzt schlimmer als zu Breschnews Zeiten". | Beschwerden sind meist aussichtslos. | Moskau. Während Russland einen rasanten wirtschaftlichen Aufschwung erlebt und sich Moskau und St. Petersburg zu schillernden Metropolen entwickeln, scheint der Justizapparat zu den dunklen Methoden vergangener Tage zurückzukehren: Die russischen Gefängnisse erinnerten an den Gulag, die berüchtigten Gefangenenlager aus sowjetischer Zeit, sagt Lew Ponomarew, Direktor der Bewegung "Sa Prawa Tschjeloweka" (Für die Menschenrechte). Zumindest seien die Verhältnisse schlechter als zu Breschnews Zeiten: "Todesfälle in Gefängnissen wurden damals wenigstens genau untersucht, heute nicht mehr", so Ponomarew.
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#Folter im Verborgenen
Laut einem von seiner Organisation kürzlich veröffentlichten Bericht haben Menschenrechtler, der russische Ombudsmann, Abgeordnete und sogar Mitarbeiter des Justizministeriums praktisch alle früheren Möglichkeiten verloren, um Insassen zu besuchen. Vor den Augen der Öffentlichkeit verborgen, etablierten sich laut dem Bericht in rund 43 Haftanstalten in Russland sogenannte Repressionszonen, in denen gefoltert werde, um Gefangene geständig zu machen oder ihr "Verhalten zu korrigieren".
Um sich die Hände nicht selbst schmutzig zu machen, würden die Verwalter der Strafkolonien oft Häftlinge damit beauftragen. "Neuankömmlinge werden durch Gewalt gezwungen, sich diesen Sektionen für Disziplin und Ordnung anzuschließen", erzählt die Anwältin Jelena Lipzer. "Bereits die Drohung, in eine für Folter berüchtigte Anstalt eingeliefert zu werden, reicht oft aus, damit sich jemand zu einer Tat bekennt", sagt Ponomarew.
Wer sich gegen dieses Unrechtssystem stemmt, riskiert sein Leben. Dies zeigte im vergangenen Jahr eindrücklich die blutige Aktion in der Haftanstalt Nr. 3 im westrussischen Lgow, bei der sich mehrere hundert Insassen aus Protest selbst verstümmelten. "Die Leute wurden systematisch für die kleinsten Dinge geschlagen", erklärt Lipzer. Ihre Beschwerden seien zuvor mehr als ein Jahr lang von der Gefängnisverwaltung unterschlagen worden.
Doch der Protest half wenig, trotz hoher Medienaufmerksamkeit: "Die Staatsanwaltschaft erhielt mehr als 300 Erklärungen von Insassen über konkrete Vorfälle von Folter und Misshandlungen, aber mit einer Ausnahme wurde kein einziges Strafverfahren eröffnet", kritisiert Lipzer.
Nach Protest verlegt
Jene, die trotzdem weiter für ihre Rechte gekämpft hätten, seien in weit entlegene Gefängnisse verlegt worden und würden dort weiter gefoltert. So auch Lipzers Mandant Witali Knijasew, der sich mit einer Klage an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg richtete. Er landete im Fernen Osten Russlands, in Chabarowsk. "Ich fürchte um sein Leben", sagt die Anwältin.
Um das Leben aller russischen Gefängnisinsassen zu schützen, hat "Sa Prawa Tschjeloweka" am 26. Juni, dem Internationalen Tag zur Unterstützung der Folteropfer, in ganz Russland zu Protesten aufgerufen. Angesichts des staatlich kontrollierten Fernsehens stieß die Aktion allerdings auf keine übermäßig breite Resonanz. Dazu müssten sich wohl erst wieder ein paar hundert Häftlinge die Pulsadern aufschneiden.