IS-Kämpfer starten neue Offensive gegen Kurden in Kobane - Kämpfe fordern dutzende Todesopfer.
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Istanbul. Die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) hat am Donnerstag mit mehreren Selbstmord- und Überfallkommandos den nordsyrischen Kurdenkanton Kobane angegriffen und ist dabei erstmals seit Januar wieder in die kurdische Grenzstadt zur Türkei vorgedrungen. Die Islamisten töteten mindestens 40 Menschen und verletzten zahlreiche weitere, bis sie von den kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) zurückgedrängt wurden. Vorwürfe der kurdischen Seite, wonach die Terroristen aus der Türkei gekommen seien, wurden von der Türkei dementiert.
Die Attacken begannen laut Angaben von türkischen und kurdischen Medien am frühen Morgen an verschiedenen Punkten um die weitgehend zerstörte Stadt Kobane, die im Januar nach monatelanger Belagerung durch den IS von den kurdischen YPG befreit worden war. Bei den neuerlichen Angriffen lenkte ein Selbstmordkommando zunächst ein mit Sprengstoff beladenes Fahrzeug zum Grenzübergang Mürsitpinar und jagte es dort in die Luft. Zahlreiche Menschen wurden dabei getötet oder verletzt, mindestens 40 Verletzte in ein Krankenhaus in der türkischen Grenzstadt Suruc gebracht. Die türkische Nachrichtenagentur Anadolu veröffentlichte ein Video, in dem man sieht, wie sich das Auto im Grenzstreifen von Westen her nähert und dann explodiert. Der Grenzstreifen liegt auf der syrischen Seite, doch gibt es Löcher im Zaun zur Türkei.
Anschließend drangen IS-Kämpfer direkt nach Kobane ein, wie die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte in London und kurdische Stellen in Syrien erklärten. Bei heftigen Gefechten, unter anderem in der in der Nähe eines von "Ärzte ohne Grenzen" errichteten Krankenhauses, seien mindestens acht Extremisten und zwölf Kurden ums Leben gekommen. "Sie eröffneten das Feuer auf jeden, den sie sahen", berichtete der YPG-Sprecher Redur Xelil Reuters. Etwa gleichzeitig griffen die Islamisten auch von Süden her an und töteten in einem Dorf nahe Kobane mindestens 20 Menschen, bevor sie sich nach heftigen Kämpfen zurückzogen. Gegen Mittag explodierte eine zweite Autobombe in Kobane.
Das Kommando der kurdischen YPG erklärte am frühen Nachmittag, es gebe Hinweise und Fotos, dass die IS-Kämpfer Kobane von der Türkei aus attackiert hätten. Ähnliche Vorwürfe wurden in den sozialen Internetmedien erhoben, wo der Hashtag #TerroristTurkey stundenlang der Quotenhit auf Twitter war.
Die Türkei wies die Vorwürfe umgehend zurück. Die Extremisten seien aus Richtung der 40 Kilometer westlich gelegenen syrischen Stadt Jarablus nach Kobane vorgedrungen, teilte das Büro des Gouverneurs der türkischen Grenzprovinz Sanliurfa mit. Doch diese Version ist wenig plausibel. Um die Grenzstadt Jarablus beherrscht der IS zwar noch einen etwa 50 Kilometer langen Landstreifen zur Türkei. Doch zwischen dem Gebiet des IS und dem der Kurden fließt der Euphrat, dessen wichtigste Brücke im Verlauf des Bürgerkriegs zerstört wurde. YPG-Streifen, die am kurdischen Ufer patrouillierten, entdeckten eigenen Angaben zufolge in der Nacht zum Donnerstag zwar tatsächlich ein Boot mit IS-Kämpfern, die sie angriffen und töteten. Weitere IS-Kämpfer konnten sie aber nicht bemerken.
Kampf um IS-Hochburg Rakka
Es seien nur wenige YPG-Kämpfer in und um Kobane gewesen, da sie an anderen Fronten gegen den IS kämpften, berichtete Idris Nasan, der Sprecher der Kantonsregierung. Die Gefechte gingen weiter, die Kurden hätten aber die Oberhand gegen die Eindringlinge gewonnen.
IS-Kämpfer griffen am Donnerstag auch die 200 Kilometer östlich von Kobane gelegene, zwischen dem Assad-Regime und den Kurden geteilte Großstadt Hasakah an. Aus dem weiter nördlich gelegenen Grenzgebiet um Tell Abjad hatte die YPG die IS-Kämpfer am Montag vor einer Woche vertrieben und damit die wichtigste Nachschubroute der Dschihadisten in ihre "Hauptstadt" Raqqa gekappt. Die Kurden rücken derzeit mit US-Luftunterstützung auf die 220.000-Einwohner-Stadt vor. Der Eindruck entsteht, dass die IS-Attacken auf Kobane und Hasakah Entlastungsangriffe sind, um den Druck der Kurden auf Raqqa zu mindern. Es bleibt abzuwarten, ob das gelingt.