Nach der Befreiung wird der Neuanfang versucht. Doch der ist in der zerstörten Stadt schwierig.
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Kobane. Im türkischen Flüchtlingslager Suruc herrscht Aufbruchstimmung. Große Teile des Lagers werden abgebaut, die Menschen packen das wenige Hab und Gut, das ihnen geblieben ist. Trotz der Warnungen der kurdischen Kommunalregierung wollen sie unbedingt zurück nach Kobane, der Stadt, aus der Ende Jänner die Schergen des Islamischen Staates (IS) vertrieben wurden.
Doch der Weg zurück in die nordsyrische Heimat, den mittlerweile schon zehntausende Flüchtlinge auf sich genommen haben, ist nicht einfach. Der Platz vor dem Grenzübergang ist überfüllt, Wasserwerfer stehen vor den Zäunen. Viele Menschen warten. Freiwillige verteilen Flyer mit bunten Bildern zum Umgang mit Blindgängern und Minen. Die Grenze nach Syrien wird dreimal wöchentlich für Flüchtlinge geöffnet: montags, mittwochs und freitags. Die Öffnungszeiten sind willkürlich. Wer bis zur Schließung nicht rüber kommt, muss bis zur nächsten Öffnung ausharren. Die türkische Regierung verweigert Journalisten das offizielle Überqueren der Grenze, weswegen wir gezwungen sind, die Grenze illegal und im Schutz der Dunkelheit zu übertreten.
Je näher man an Kobane herankommt, desto mehr ausgebombte Häuserskelette ziehen hinter den Fensterscheiben des Kleinbusses vorbei. Die Ruinen am Rand der Stadt vermittelten einen bittereren Vorgeschmack auf das, was einen in Kobane erwartet. Die Stadt ist ein apokalyptischer Ort, die Zerstörungen sind immens. Laut Mustafa Ebdi, dem Minister für Wiederaufbau, liegt die Zahl der zerstörten Gebäude bei knapp 80 Prozent. Nahezu die komplette Infrastruktur ist ausradiert, ganze Straßenzüge sind unpassierbar. Die Trümmerberge häufen sich meterhoch. Darunter liegen zahlreiche tote IS-Kämpfer, die noch nicht beerdigt werden konnten.
Ungewisse Zukunft
Der trockene Staub von Kobane schluckt alle Farben. Der beißende Verwesungsgeruch lenkt ab vom Grau-in-Grau. Nur wenige Gebäude sind nicht zerstört. Jene, die noch stehen, weisen große Schäden auf. Wir treffen Sehin. Sehin ist ein bekannter kurdischer Sänger und Poet. Er hat während des Krieges alles verloren. Sehin zeigt uns die Spuren seines Lebens vor dem Krieg. Er führt uns zu den Ruinen seiner Wohnung und seines Musikgeschäfts, die von IS-Kämpfern komplett zerstört wurden. Vor der durchlöcherten Hauswand, auf die das Zeichen des IS gesprüht ist, packt er ein paar Fotos aus. Er mit seinem Kind im Arm. Eins mit seiner Frau. Eine glückliche Familie. Ein Bild von Sehin als Sänger mit seinem Instrument. Sein Instrument ist nun kaputt.
Auf die Frage, wie er Kobane in fünf Jahren sieht, antwortet er: "Ich hoffe, dass bis dahin mein Haus und mein Geschäft wiederaufgebaut sind, damit ich meine Familie zurückholen kann. Dass Kobane wieder eine Stadt wird und keiner hungern muss." Angst, dass der IS zurückkommt, hat er nicht. "Er hat keine Chance. Wir sind zu stark."
Mustafa Ebdi ist als Minister auch Co-Vorsitzender des Komitees für Wiederaufbau. Das Komitee wurde bereits zwei Tage nach der Befreiung gegründet. Ebdi erzählt, dass alle politischen Ämter mit einer Doppelspitze, bestehend aus Mann und Frau, besetzt sind. Die zweite Vorsitzende heißt Rodni Dabo. Sie ist Bauingenieurin. Die Stadtregierung in Kobane besteht aus einer Koalition mehrerer progressiver kurdischen Gruppen und Parteien. "Kobane ist von Feinden umzingelt", sagt Ebdi, "im Vordergrund stehen erstmal der Wiederaufbau und die Versorgung der Stadt." Auf die Frage, wo er Kobane in der mittelfristigen Zukunft sieht, antwortet er: "Ich hoffe sehr, dass wir in einem freien Syrien leben werden, in dem wir Kurden nicht wie Menschen zweiter Klasse behandelt werden. Wie alle Kurden träume auch ich von einem anerkannten, unabhängigen Kurdistan. Doch ich bin Realist. Zuerst realisieren wir die demokratische Selbstverwaltung. Von uns kann ganz Syrien lernen."
Wir gehen weiter durch die Straßen Kobanes und treffen Mohamad vor seiner zerstörten Schneiderei. Er war Mitglied der kommunistischen Partei Syriens, wurde inhaftiert, gefoltert und bekam 1991 Berufsverbot als Lehrer. Daraufhin eröffnete er eine Schneiderwerkstatt und ein Geschäft für Textilien. Das Geschäft florierte. Die Familie hatte ein gutes Einkommen bis zur Eroberung Kobanes. Nun ist ihre Lebensgrundlage zerstört. "Ich gehöre nach Kobane", sagt Mohamed. "Ich könnte mir nie vorstellen, jemals woanders zu leben." Wie es nun nach der Rückkehr weitergehen soll, ist aber schwer zu sagen. Mohamed ist seit dem Krieg berufsunfähig, da Teile eines Schrapnells immer noch in seiner Hüfte stecken. Jedes lange Stehen und Gehen schmerzt stark und die ungewisse Zukunft der Familie lastet wie ein tonnenschwerer Stein auf Mohameds Schultern.
Wir steigen über Trümmerteile, bahnen uns den Weg durch eine kleine Seitenstraße. Dort sitzt ein alter Mann mit seiner Frau. Sie bitten uns zu sich. Der Mann beginnt zu erzählen. Er heiße Mustafa und seine Frau Rozerin. Er sei vor dem Krieg Englischlehrer an einem Gymnasium gewesen. Das alte Ehepaar sitzt vor den Trümmern seines Hauses, beide brechen beim Erzählen in Tränen aus. Es ist alles zerstört, nichts ist ihnen geblieben. Mustafa zeigt auf die Ruine seines Hauses und sagt: "Ich hätte euch so gerne eingeladen."
Ein Stück Geborgenheit
Das tägliche Leben in Kobane ist von harten Entbehrungen gekennzeichnet. Die komplette Infrastruktur, das heißt Strom-, Wasser- und Abwasserversorgung, ist zerstört. Strom gibt es nur über Generatoren, die vor den Häusern stehen. Jedoch können sich nur wenige Familien den dafür nötigen Treibstoff leisten. Besonders bei Nacht wird diese Problematik deutlich. Ein Blick vom Dach eines der wenigen intakten Häuser zeigt Kobane in fast völliger Dunkelheit. Lediglich hin und wieder sind Menschen zu sehen, die sich mit Hilfe von Taschenlampen ihren Weg durch die Trümmer bahnen. Nur wenige Kilometer entfernt liegt die türkische Seite mit ihren hell erleuchteten Orten.
Seit der Befreiung Kobanes konnten zwar schon einige Trümmer geräumt werden, jedoch fehlt es an schwerem Gerät. Ebenso werden dringend Spezialisten zur Sprengstoffbeseitigung benötigt. In den Häusertrümmern liegen Minen und Sprengfallen des IS sowie US-Blindgänger. Viele Rückkehrer räumen ihre Häuser und Werkstätten von Hand mit Besen und Schaufeln vom Schutt frei. Aus den Trümmern wird ein Verteidigungswall auf der Straße Richtung Aleppo errichtet.
Trotz der schwierigen Lage versucht die kurdische Regierung, den Unterricht für die schulpflichtigen Kinder wieder zu ermöglichen. "Die Kinder sind unsere Zukunft, unsere Hoffnung für ein neues Kobane. Darum hat der Schulbetrieb oberste Priorität", sagt Minister Ebdi. Zwischen den Trümmern gibt es allerdings auch eine Insel der Normalität, ein Stück Geborgenheit inmitten dieser zerstörten Stadt. Das Kulturzentrum von Kobane ist der Treffpunkt der Jugend. Schon weit vor dem großen Saal, in dem die Kinder musizieren, spürt man eine heitere und hoffnungsvolle Stimmung. Die Älteren hier halten die Kalaschnikow zwar immer einsatzbereit, dennoch ermöglicht dieser Ort eine kurze Pause vom harten und unerbittlichen Krieg vor den Toren der Stadt. Hoffnung gibt den Menschen nicht zuletzt die Freude über die Befreiung Kobanes. "Biji Biji!" - das heißt "Sieg, Sieg!" - ist die übliche Begrüßung, begleitet von einem Victoryzeichen, das vor allem die Kinder gerne zeigen. Sie bauen ihr Spielzeug aus Trümmerteilen und allem, was sie finden können. Und oft huscht dabei über die von Krieg und Flucht gezeichneten Gesichter ein Lächeln.