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Russische Politologin Schewtsowa über Veränderungen in Russland ein Jahr nach der Annexion der Krim.
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"Wiener Zeitung":Vor etwas mehr als einem Jahr hat Russland die Krim annektiert. Wie hat sich Russland seitdem verändert?Lilija Schewtsowa: 2014 war ein Jahr der Wende. Allen voran hat die russische Führung in diesem Jahr neue Arten der Legitimation gesucht - und fand sie im "Krimnaschismus" ("Krim nash" bedeutet "die Krim ist unser", Anm.), also der sogenannten Befreiung der Krim, die eine Annexion war und von einem bedeutenden Teil der russischen Bevölkerung unterstützt wurde. Aber diese Art der Legitimation begann sich bereits im Jahr 2014 zu erschöpfen. Deswegen hat man nach Modifikationen davon gesucht, nach neuen Ideen der Konsolidierung wie etwa dem Konzept Neurusslands. Das hat man mittlerweile völlig verworfen. Aber generell ist die Hinwendung zur Vergangenheit, wenn es in der Gegenwart keine Legitimationsmöglichkeiten für die Führung gibt, heute ein sehr wichtiger Aspekt. Das sehen wir rund um das allgegenwärtige Thema des Kampfes gegen den Faschismus oder der Rückkehr zu den großartigen Siegen des sowjetischen Volkes. Die 70-Jahr-Feier zum Tag des Sieges sei hier erwähnt. Und natürlich bleiben Amerika und der Westen als Feind erhalten.
Wie erfolgreich ist man mit dieser Vergangenheits-Politik?
Zu einem gewissen Maß ist man damit erfolgreich. Allerdings haben im Frühjahr 2014 noch rund 57 Prozent der Russen die Krim-Politik befürwortetet, Ende des Jahres waren es nur mehr 43 Prozent. Und nur mehr jeder Siebte war bereit, seine Kinder in den Krieg zu schicken, um die Krim oder Neurussland zu verteidigen. Das heißt, wir sehen, wie diese Droge nachlässt. Deswegen sucht man nach neuen Konzepten. Die Führung muss bis zu den Parlamentswahlen und den später folgenden Präsidentschaftswahlen das Volk geeint halten - auch vor dem Hintergrund der sich verschlechternden Wirtschaftssituation. Die neue Droge muss jetzt gar nicht mehr unbedingt die Ukraine sein, das russische Volk ist der Ukraine mittlerweile schon müde geworden.
Sie sagen, dass die Russen der Ukraine müde werden?
Das zeigen noch nicht alle Umfragen, aber nehmen wir etwa das Ergebnis, dass nur mehr 25 Prozent der Russen militärische Aktivitäten gegen die Ukraine gutheißen. Gleichzeitig unterstützt man die Politik Putins in der Ukraine, andererseits sagen 60 Prozent der Russen, sie wollen freundschaftliche Beziehungen zu Kiew. Es ist also mittlerweile nicht mehr alles einseitig, es gibt bereits eine kognitive Dissonanz, zwei Wahrheiten in einem Kopf, sozusagen.
Heißt das gleichzeitig auch, dass zu erwarten ist, dass sich der Konflikt im Osten beruhigen wird?
Nein, nicht unbedingt. Er kann auch bloß andere Formen annehmen als bisher. Die Ukraine ist Teil der historischen russischen imperialen Legitimation, deswegen wird der Versuch eines bedeutenden Teils der russischen Elite, die Ukraine zu unterminieren, auch in Zukunft weitergeführt werden. Aber nicht unbedingt wie bisher in militärischer Form. Ich schließe zwar die Möglichkeit nicht aus, dass es einen Angriff auf Mariupol geben wird, aber meiner Meinung nach ist aktuell die Hauptstoßrichtung, abzuwarten, bis die Ukraine von selbst fällt wie ein brauner Apfel. Man hofft also auf einen Finanzbankrott. Im Kreml sitzen keine dummen Leute, sie sind äußerst schlau.
Wie ist die Stimmung in Russland heute? Den Umfragewerten zufolge müsste man annehmen, ganz Russland steht hinter Putin.
Welch Dummheit. Alleine die Zustimmungsrate für Putin von über 80 Prozent muss doch Befremden und Unglauben hervorrufen. Ceausescu (ehemaliger rumänischer Präsident, Anm.) wurde sieben Tage, nachdem seine Umfragewerte 90 Prozent betrugen, umgebracht. Die Kommunistische Partei der Sowjetunion verlor ihre führende Rolle 1987, nachdem der Partei offiziell 90 Prozent Zustimmung erreichte. Diese Ratings sagen nicht wirklich etwas aus. Natürlich ist es so, dass ein bedeutender Teil der Bevölkerung Putin unterstützt. Aber wenn 60 Prozent der Bevölkerung angeben, dass sich Russland in einer schweren Wirtschaftskrise befindet, aber gleichzeitig 80 Prozent Putin unterstützen, lässt einen das doch zweifeln. Das Bild ist weit vielschichtiger, vergleichbar mit einem impressionistischen Gemälde.
Wenn wir uns die Gesetze ansehen, die in Russland in den vergangenen Wochen und Monaten verabschiedet wurden, etwa die Möglichkeit des Verbots "unerwünschter" Organisationen oder die Erweiterung der Staatsgeheimnisse - welche Art von Staat baut Putin?
Putin baut mittlerweile keinen Staat mehr. Er versucht lediglich, sich an der Macht zu halten und den Status quo zu bewahren. Er - beziehungsweise sein Team, denn wir wissen in Wirklichkeit nicht, welche Rolle er selbst noch spielt - hat schon keine Energie mehr, etwas aufzubauen.
Welche Folgen hatte der Mord an Oppositionsführer Boris Nemzow im Februar?
Es war ein mehr als gravierender Schlag für die Opposition, denn Nemzow war - ungeachtet dessen, dass es ohnehin wenig Oppositionsfiguren in Russland gibt - eine ganz lebhafte Kraft, er hat die Opposition finanziert, fand Unterstützungsquellen, er war Ex-Vizepremier und hatte innerhalb des Kreml-Establishments ausgezeichnete Verbindungen. Es war eine Warnung an alle Oppositionellen. Aber der Anschlag hat auch eine Schwäche der Führung offenbart, denn bis heute kann sie sich nicht für eine Variante entscheiden, wer dafür zu bestrafen ist. Und Putin war übrigens schockiert darüber, vom Schreck gepackt und zornig. Es war nicht in seinem Interesse, dass das passiert.
Russland gibt heute sehr viel Geld für die Militarisierung des Landes aus. Ist das in der momentanen Situation gerechtfertigt?
Der Militarisierungsplan, den der Kreml für die Jahre bis 2020 gefasst hat, ist ein riesiges Investment. Damit werden die Militärausgaben auf neun Prozent des heutigen Budgets angehoben, gerechnet mit dem heutigen Ölpreis. Das ist nicht bewerkstelligbar und das Programm wird gekürzt werden. Gleichzeitig wird man auch die Sozialausgaben kürzen und der Kreml muss hier eine Balance finden, damit die Menschen nicht auf die Straße gehen. Viel hängt von der wirtschaftlichen Entwicklung ab, vom Ölpreis und von den Sanktionen. Daher blickt man in Russland gespannt nach Brüssel, wo diese Ende Juni erneut zur Debatte stehen. In Europa beobachte ich die Tendenz, die jetzige Krise mit Russland als kleinen Regionalkonflikt herunterzuspielen. Nach dem Motto: Wir haben mit Minsk-2 ein neues Friedensabkommen erreicht, jetzt können wir uns wieder anderweitig beschäftigen.
Lilija Schewtsowa ist Nonresident Senior Fellow bei der US-Denkfabrik Brookings Institution. Die russische Politologin beschäftigt sich hauptsächlich mit der Innen- und Außenpolitik Russlands und ist Autorin
und Co-Autorin von mehr als 20 Büchern zu dem Thema. Sie sprach beim Kiewer Sicherheitsforum.