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"Die Sache blieb unter Kontrolle"

Von Gerhard Lechner

Europaarchiv

Geheimdienst hatte demokratischen Aufbruch 1990 von Anfang an sabotiert.


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Wien. Viktor Kalaschnikow, entfernt verwandt mit dem Erfinder des gleichnamigen Gewehrs, war ein hochrangiger Mitarbeiter des Sowjet-Geheimdiensts KGB. Unter anderem gingen sämtliche Stasi-Spionageberichte durch seine Hände. Der "Wiener Zeitung" erzählte der Aussteiger, der in den 1990er Jahren für die Administration von Präsident Boris Jelzin arbeitete und sich derzeit in Wien aufhält, über das Überleben der alten sowjetischen Militär- und Geheimdienststrukturen.

"Wiener Zeitung": Herr Kalaschnikow, Sie behaupten, dass das heutige russische System starke Ähnlichkeiten mit dem der untergegangenen Sowjetunion aufweist. Warum soll das so sein?

Viktor Kalaschnikow: Im Wesentlichen deshalb, weil die antikommunistischen Reformen, die im Baltikum und in Mitteleuropa durchgeführt wurden, in Russland nicht einmal richtig angefangen wurden. Jene Institutionen, die mit der Durchführung dieser Reformen befasst waren, wurden von allen Seiten blockiert. Uns wurde erklärt, was in Mitteleuropa passiert, das wäre deren Sache, das geht uns nicht so direkt an - wir sind ein Sonderfall, eine Großmacht, und wir werden im Sinne der Stabilität und der Wiederherstellung der russischen Machtpositionen unsere Politik weiterführen. Logischerweise kam es dann zu einer Art Restauration, die alten Kader kamen wieder Schritt für Schritt in Schlüsselpositionen - in der Politik, in den Medien und in der Wirtschaft - und nunmehr haben wir eine Art KGB-Auslaufmodell, das Russland in die gerade ausgebrochene Krise gebracht hat.

Was waren die Gründe für dieses Scheitern der Reformen?

Die Nomenklatura hat gesehen, was in Mitteleuropa mit unseren Genossen passiert ist - dass Geheimdienst-Zentralen gestürmt wurden zum Beispiel -, und wollte ein solches Szenario natürlich verhindern. Deshalb gab es auch in unseren Reihen große Erleichterung, als wir in unserem Stützpunkt in Wien im Fernsehen gesehen haben, wie das Denkmal Feliks Dzierzynskis, des Gründers der bolschewistischen Geheimpolizei Tscheka, abgerissen wurde. Warum? Wir hatten befürchtet, dass die dahinter liegende Geheimdienstzentrale selbst, die berüchtigte Lubjanka, gestürmt wird. Das blieb aus - unsere Agenten, die in der Menge waren, lenkten den Unmut auf das Denkmal. Und uns war klar: Die Sache bleibt unter Kontrolle.

Gab es denn keine Gegenkräfte zu den alten Kadern?

Das war eben das Problem: Im Gegensatz zu Polen, zum Baltikum gab es keine richtigen Gegenspieler zur Nomenklatura. Die alten Kader sind an der Macht geblieben, ganz einfach deshalb, weil sie keiner weggetrieben hat. In Mitteleuropa spielte außerdem der Einfluss von EU und Nato eine erhebliche Rolle für den Erfolg der Demokratie. Bei uns waren die demokratischen Kräfte, die neuen Parteien zu schwach und auch bereits mit KGB-Agenten durchdrungen. Anstelle der alten Parteistrukturen trat unter Jelzin die Verteilung der wichtigsten Ressourcen des Landes unter der Machtelite - Tschekisten, also Geheimdienstlern, Militärs und früheren Parteileuten. Das, so rechnete man, schweißt uns zusammen. Jelzin wurde vom KGB von Anfang an korrumpiert, der es geschickt verstanden hat, sich als unentbehrliches Stabilitätselement darzustellen.

Und unter Wladimir Putin?

Da brauchte man diese Vormacherei, man wäre eine Demokratie, bereits nicht mehr. Die Militärs benötigten hingegen einen Mann, der für das kommende Blutvergießen in Tschetschenien die Verantwortung übernimmt. Man hat ein paar Kandidaten - Stepaschin, Kirilenko, Primakow - getestet. Putin erwies sich als der Geeignetste. Die Initiative für seine Inthronisierung ging eindeutig von der Machtspitze in Russland aus, und das ist sind die führenden Militärs, der Generalstab, der als der wirkliche Mastermind der russischen Politik bezeichnet werden kann. Das Militär hat Tradition, einen Brain Trust, eine Denkschule zur Verfügung.

Was sind die Maximen dieser Denkschule?

Dass Russland von Feinden umzingelt ist und in stetiger Erwartung einer Aggression lebt - vor allem seitens des Westens, wenn man an Napoleon oder Hitler denkt. Und da wir jederzeit angegriffen werden können, brauchen wir eine mächtige Verteidigung. Was aber ist die beste Art der Verteidigung? Offensive! Man braucht die Bedrohung von Außen vor allem auch als Legitimationsbasis nach innen, um diese Staats- und Gesellschaftsordnung aufrechtzuerhalten. Denn die aggressive Militärpolitik, die Allianzen mit Syrien, dem Iran, der Hisbollah, mit diesem verrückten Chavez in Venezuela - in wessen Interesse ist denn das? Doch nur im Interesse der Oberschicht von etwa 100 Milliardären, die von Putin praktisch dazu ernannt wurden. Das sind ja keine Selfmade-Leute wie Bill Gates, sondern Günstlinge, nach der Art: Du bekommst diese Ölgesellschaft, du diese Waffenschmiede. Und von dieser Clique aus Tschekisten und Militärs fühlt sich die nachdrängende junge Generation eingeengt. Die Proteste jetzt sind Anfänge demokratischer Tendenzen wie damals in Mitteleuropa - um das nachzuholen, was vor 20 Jahren verabsäumt worden war.

Zur Person



Viktor

Kalaschnikow

war als KGB-Oberstleutnant unter anderem in Brüssel und - zur Zeit des Falls des Eisernen Vorhangs - in Wien stationiert. Heute arbeitet der 59-Jährige als freier Journalist.

"Die alten Kader

sind an der Macht

geblieben. Warum? Es gab niemanden, der sie vertrieben hat."