Zum Hauptinhalt springen

Die Sache mit den Stichproben

Von Erich Neuwirth

Gastkommentare
Erich Neuwirth war vor seinem Ruhestand Leiter des fachdidaktischen Zentrums für Informatik an der Universität Wien und lehrt dort noch immer Statistik, Mathematik und Informatik.

Warum die scheinbare Vergrößerung der Geschlechterunterschiede bei den Pisa-Tests zu hinterfragen ist.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 9 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Die OECD hat unlängst Auswertungen über Geschlechterunterschiede bei der Pisa-Studie veröffentlicht. Hierzulande wurde am meisten kommentiert, dass sich in Mathematik die Schere zwischen den Geschlechtern seit 2003 im Ländervergleich am stärksten geöffnet hat. Die Mädchen sind merkbar schlechter als die Buben, und der Unterschied hat laut OECD von 2003 auf 2012 in keinem Land so stark zugenommen wie in Österreich. Er ist tatsächlich ziemlich groß, etwa 20 Pisa-Punkte. Das gilt aber für alle vier Pisa-Erhebungen außer die von 2003.

Weitaus weniger wurde dagegen der etwa doppelt so große Unterschied beim Lesen (rund 40 Punkte) thematisiert; hier sind die Buben viel schlechter. Betrachtet man allerdings alle Pisa-Untersuchungen (vor und nach 2003), dann stellt sich heraus, dass sowohl beim Lesen als auch bei Mathematik die Geschlechterunterschiede 2003 anders waren als bei den anderen Erhebungen. 2003 gab es ein Problem mit der Zusammensetzung der Schüler. Einige der als Zufallsstichprobe ausgewählten AHS hatten deutlich mehr Mädchen als Buben; es gibt nämlich in Österreich - anders als in vielen anderen Ländern - immer noch Schulen, in die entweder sehr viel mehr Mädchen als Buben oder umgekehrt gehen. AHS-Schülerinnen sind im Lesen und in Mathematik besser als die übrigen Mädchen; sie waren in der Stichprobe überrepräsentiert. Daher hatten die Mädchen bessere Pisa-Ergebnisse, als es der tatsächlichen Zusammensetzung der gesamten Schülerpopulation entsprach. Die OECD kennt die Verzerrung der Stichproben und hat auch Vorschläge zur Korrektur. Bei den korrigierten Werten für 2003 wird der Abstand in Mathematik größer, und die Abstände bleiben über alle Pisa-Erhebungen hinweg ziemlich konstant, man kann also nicht von einem Aufgehen der Geschlechterschere sprechen.

Bemerkenswert ist auch, dass kaum thematisiert wird, dass der Geschlechterunterschied beim Lesen (zu Ungunsten der Buben) etwa doppelt so groß ist wie in Mathematik (zu Ungunsten der Mädchen). Bei beiden Problemen sollte dringendst etwas geschehen. Österreich gehört nämlich in Mathematik jedes Mal zu den Ländern mit dem größten Geschlechterabstand. Beim Lesen ist der Geschlechterunterschied im Vergleich zu vielen anderen Ländern ebenfalls groß. In Finnland gibt es aber zum Beispiel einen weitaus größeren Geschlechterabstand beim Lesen als in Österreich, bei Pisa 2012 betrug er etwa 60 Punkte.

Was bedeuten eigentlich Pisa-Punkte? Sie stehen in einer mathematischen Beziehung mit Lösungswahrscheinlichkeiten von Aufgaben mit bestimmtem Schwierigkeitsgrad. Wenn die Mädchen um 40 Punkte besser lesen als die Buben, dann heißt das, dass eine Aufgabe, die 50 Prozent der Buben lösen, von 62 Prozent der Mädchen gelöst wird. Wenn die Buben in Mathematik um 20 Punkte besser sind, heißt das, dass eine Aufgabe, die 50 Prozent der Mädchen lösen, von 56 Prozent der Buben gelöst wird.

Pisa zeigt, dass wir in Österreich beträchtliche Unterschiede zwischen Buben und Mädchen haben, die aber vielleicht sogar eher zu Lasten der Buben als zu Lasten der Mädchen gehen. Diese Unterschiede sind über alle Pisa-Perioden hinweg ziemlich konstant; es scheint sich also um strukturelle Probleme zu handeln.