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Die Sailers als Spengler: Training, Rennen, Werkstatt

Von Wolfgang Machreich

Reflexionen
Genial einfache Idee im Kampf gegen Dachlawinen: Die Sailerklemme.
© Machreich

Ihr Name steht für Skifahren in Perfektion. Aber auch um das Dachdeckergewerbe hat sich die Tiroler Dynastie verdient gemacht.


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Steil wie ein Kirchendach startet das berühmteste Skirennen der Welt: "Do obi? Sad’s deppat? Niemals!", sagte Franz Klammer vor seinem ersten Streif-Start 1973. Von 0 auf 130 km/h beschleunigen die Rennläufer auf den ersten 160 Metern der Abfahrt, bevor sie nach knapp acht Sekunden Laufzeit 60 bis 80 Meter in einen Abgrund mit 85 Prozent Gefälle tauchen. "Wie wenn man ohne Fallschirm aus dem Flugzeug springt", meinte Marc Girardelli, Streif-Sieger 1989.

"Todesangst-Gefühle" überkamen Abfahrts-Olympiasieger Stephan Eberharter beim Streif-Debüt 1991 und "die Hosen voll" hatte Streckenrekordhalter Fritz Strobl bei seiner ersten Einfahrt in die Mausefalle. Der Name stammt von Anton Sailer senior: "Wia a Maustrappei" nannte er die Steilhangkante. Kein Zufall, dass Sailer der treffende Begriff für den gefährlichsten Sprung im Skizirkus einfiel. Mit Steilheit kannte sich der Kitzbüheler Spenglermeister aus - und mit seiner Kreativität konnte er auch für die Dachdeckerei ein Markenprodukt entwickeln, das nach Jahrzehnten noch so innovativ daherkommt wie das 80. Hahnenkamm-Rennen an diesem Wochenende.

Hausbaumetapher

Um die zweite, die fast unbekannte Erfolgsgeschichte der Sailers zu schreiben, muss man vom Hahnenkamm in die Kitzbüheler Webergasse wechseln, von der Rennstrecke in die Spenglerwerkstatt - die es so nicht mehr gibt. "Ich hab alles weggegeben", antwortet Rudi Sailer auf den suchenden Blick nach Werkzeug, "sonst hör ich mit der Arbeit ja nie auf." Schade, umsonst darauf gefreut, dem Arbeitsgeist der drei Generationen lang dauernden Spengler- und Glaserdynastie Sailer noch auf einer Werkbank mit Schlagschere, Bördel- und Falzeisen nachspüren zu können.

Aber verständlich, Rudi Sailer ist ein Zupacker, einer, der in die Fußstapfen steigt und übernimmt, Arbeit, Aufträge, Funktionen und letztlich - mit diesem Namen, mit dieser Herkunft - auch ein Erbe, mit all seinen guten und weniger guten Seiten. Das zeigt die Biografie des Rudi Sailer, das blitzt mehrmals im Gespräch auf, das zeigt sich schon am Schreibtisch, auf dem die Sailers früher ihre Rechnungen schrieben, fürs Dachdecken, Dachrinnen montieren, Kamineinfassungen einfalzen ...

Neben Büroklammern liegen Blechnieten und Kupfernägel, an der Wand hängen Bleiverglasungen, Gesellenstücke, Meisterstücke, und in einer Ecke lehnt, halb verdeckt von Druckerkabeln, ein Foto der österreichischen Ski-Nationalmannschaft aus den 1970er Jahren in Fußballdressen; ganz links der junge Karl Schranz, in der Mitte der noch jüngere Rudi Sailer. Ein Leben auf Blechdach und Skipiste, gleichzeitig und abwechselnd, nebeneinander und hintereinander, mit- und manchmal auch gegeneinander.

Rudi Sailer: "Was heute Bundesheer-Soldaten machen, haben im Krieg unsere Spengler gemacht."
© Machreich

Wie es der skibegeisterte Vater, Kitzbüheler Ski-Club-Urgestein und in den Anfangsjahren auch Rennleiter des Hahnenkamm-Rennens, den Sailer-Kindern vorlebte: "Was heute Bundesheer-Soldaten machen, haben in der Zeit nach dem Krieg unsere Spengler gemacht", sagt Rudi Sailer. "Bis auf Dächer abschaufeln, war im Winter wenig Arbeit im Betrieb, da hat der Vater unsere Gesellen als Pistenkommando eingeteilt."

Die enge Verbundenheit zwischen Spenglerei und Skifahrerei bei den Sailers zeigt sich auch in den biografischen Artikeln über "Österreichs Sportler des Jahrhunderts" Toni Sailer, in denen Spenglermontur und Sportanzug, Arbeitsmoral und Trainingsethik, der Handwerker und der Spitzensportler als parallel laufende und zusammengehörende Stränge seines Lebens beschrieben werden.

"Dies ist kein Zufall", heißt es im Buch "Perspektiven der historischen Sport- und Bewegungskulturforschung" des Wiener Sportwissenschafters Rudolf Müllner: "Sailer ist - neben seinen sportlichen Erfolgen - eine Allegorie des Wiederaufbaus." Als Handwerker passt er perfekt in die Hausbaumetapher, die für den Wiederaufbau Österreichs verwendet wird. "Der auf Kirch- und Hausdächern seinem nicht ungefährlichen Gewerbe nachgehende Spengler Sailer setzt dem ‚Eigenheim Österreich‘ mit selbstverständlicher Professionalität quasi die Krone auf", schreibt Müllner: "Spätesten jetzt waren die Kriegsfolgen überwunden."

Und im Band "Memoria Austriae I" zu Menschen, Mythen und Zeiten der österreichischen Geschichte heißt es über Toni Sailer: "Er ist der Held des beginnenden Wirtschaftswunders, steht für die Möglichkeit, durch harte Arbeit gesellschaftlichen Aufstieg zu schaffen. Überdies war er die ideale Werbefigur für den Wintertourismus. Der ‚intakte Held in intakter Natur.‘"

Zwei Generationen später hat nicht nur das Bild des "intakten Helden" im Rahmen der #MeToo-Debatte arge Schrammen bekommen, auch die Natur ist in Klimawandel-Zeiten außer Takt geraten. Jahrhundertelange Jahreszeiten-Gewissheiten werden durch Extremwetter-Ereignisse über den Haufen geworfen. Eine Sailer-Erfindung bekommt dadurch noch mehr Gewicht.

Spenglerstolz

Johann Sailer, der Vater von Toni Sailer sen., zog in den 1910er Jahren von Südtirol ins Tiroler Unterland. "Mein Vater ist noch in Dorf Tirol geboren", sagt Rudi Sailer. Als Grund für die Übersiedelung nennt er, dass der Bruder seines Großvaters bereits als Spengler in Kufstein arbeitete und Unterstützung beim Großauftrag brauchte, die Dächer der Bahnwärterhäuser im Tiroler Teil der Westbahnstrecke zu decken.

Allzu harmonisch dürfte die brüderliche Zusammenarbeit nicht gewesen sein. Johann Sailer zog bald weiter nach Kitzbühel, gründete einen Spengler- und Glaserbetrieb, den Toni Sailer sen. und schließlich Rudi Sailer, "weil der Toni ja dann überall anders war", weiterführten. "80 Prozent der Kitzbüheler Dächer haben wir gedeckt", rechnet Sailer, hinter seinem Spenglermeister-Schreibtisch sitzend, vor. Der Handwerker-Stolz steht ihm dabei in sein, man darf es sagen, typisches Sailer-Gesicht geschrieben. Spenglerstolz ist bei Sailers auch berechtigt. Was im Skisport die "Zweistocktechnik" ist, ist in der Dachdeckerei die "Sailerklemme" - eine genial einfache Grundidee und gleichzeitig ein Quantensprung.

Die Sailerklemmen werden im "Vorens"-Firmensitz in Mittersill produziert.
© Machreich

"Mein Vater hat das aus einer Notwendigkeit heraus entwickelt", sagt Sailer. 1957: Toni Sailer jun. hatte im Jahr davor sieben Goldmedaillen bei den Olympischen Spielen und Alpinen Skiweltmeisterschaften in Cortina d’Ampezzo gewonnen, im Jahr darauf wird er drei weitere Goldene und eine Silberne bei den Skiweltmeisterschaften in Bad Gastein abräumen - und Toni Sailer sen. meldete die "Sailer Falzklemmen für Blechdach" als Patent an.

Bis dahin war es üblich, die Schneefangrechen mit groben Haken zu montieren, die man mit Schrauben durch das Blech an den Dachsparren befestigte. Das war viel Arbeit, und oft wurden die Dächer bei diesen Schneeschutzhaltern undicht. Da war Sailer sen. eines Tages mit dem Auftrag konfrontiert, den Schneefang auf einem Vordach ohne Holzsparren befestigen zu müssen. Er machte aus der Not eine Tugend: "Mein Vater ging zum Schmied und ließ sich Metallplatten mit einem größeren Loch für ein Wasserrohr und zwei kleineren Löchern für Schrauben machen", erzählt Rudi Sailer die Entstehungsgeschichte der Erfindung.

Dann schraubte er jeweils zwei dieser gelochten Flacheisen am unteren Dachende auf die aufstehenden Fälze des Blechdachs und zog ein Dreiviertelzoll-Wasserrohr durch - "passt, sitzt und hat Luft", hat er sicher zufrieden gesagt und dabei in die Hände geklatscht. Fertig war der Prototyp des Sailer-Schneeschutzes. Goldmedaille bekam der Spengler dafür zwar keine, aber der Siegeszug der Sailerklemme im Alpenraum und überall dort, wo es Blechdächer, Schnee und die Gefahr von Dachlawinen gibt, hält bis heute an.

"Der Vorens in Mittersill war unser Mann", sagt Rudi Sailer, als er über die weitere Geschichte der Klemme erzählt. "Für uns war die Lizenzgebühr ein nettes Zubrot. Vorens hat das am feinsten abgehandelt, während es mit anderen, die sich das Patent unter den Nagel rissen, die Klemmen mit kleinen Änderungen produzierten, ewige Streitereien gab", schildert er die Freuden und Nöte seines Erfinder-Vaters.

Enge Verwobenheit

Von Kitzbühel geht es über den Pass Thurn nach Mittersill und zum "Vorens"-Firmensitz, wo die Sailerklemmen nicht nur die betriebliche Vergangenheit, sondern auch Gegenwart und Zukunft prägen. Es ist der umgekehrte Weg, den die beiden Firmengründer Karl Vorderegger und Arthur Ensmann 1959 zurücklegten, als sie zum Spenglermeister Sailer fuhren, um mit ihm die Details der Verwertung seiner Erfindung auszuhandeln.

Eine 100 Tonnen schwere Exzenterpresse wurde im gleichen Jahr angeschafft (sie ist noch immer in Betrieb), und die Sailer-Vorens-Klemmengeschichte startete ihren Erfolgslauf. 150.000 Sailerklemmen plus, minus, in verzinkter Ausführung, in Kupfer oder rostfreiem NiRo-Stahl produziert die Firma "Vorens-Metall" im Jahr, rechnet Senior-Chef Willi Vorderegger vor. Es gäbe mittlerweile zwar weniger Blechdächer, aber die Gesamtzahl der vor Dachlawinen schützenden Sailerklemmen sei riesig - 20 Millionen schätzt er.

Und Vorderegger erinnert sich, Toni Sailer sen. ("ein kleines Mandl") und seine Frau immer wieder mal bei Fachmessen getroffen zu haben: "Das sind zwei sehr feine Leute gewesen - wir haben uns oft gewundert, warum sie die Klemmen nicht selber machen." Die Antwort liegt wohl in der engen Verwobenheit von Spenglerei und Skifahrerei in der Familie.

"In einer Hahnenkamm-Rennwoche waren wir bis Mittwoch am Dach oder in der Werkstatt, dann Vormittag beim Training und nachher wieder in der Spenglerei", beschreibt Rudi Sailer die Zeit, als Arbeit und Skisport ihn und seine Familie prägten. Später übernahm er, dieser Kombination treu bleibend, die Leitung der "Roten Teufel"-Skischule. Da blieb keine Zeit, um noch Klemmen zu stanzen.

Doch wie der Name Mausefalle hat auch diese Sailer-Erfindung die Zeiten überdauert und lässt den Letzten in der Reihe der Sailer-Spenglermeister in Kitzbühel sagen: "Am meisten gebracht haben diese Klemmen der Allgemeinheit - und das ist doch das Schönste, was man von seiner Arbeit sagen kann."

Wolfgang Machreich, im ersten Beruf Spengler- und Glasergeselle, ist
freier Autor und Journalist. Zuletzt erschienen: "360° um die Welt -
Alle Länder von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang" (360° Medien).