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Der Grund für die Rückkehr der Postfaschisten in Italien sind die Traumata, die alle vergessen wollen. Sie sind der Schlüssel zur Gegenwart.
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Es muss so um das Jahr 1989 gewesen sein. Mein Schulfreund Florian und seine Familie hatten mich in die Ferien eingeladen, das Ziel war das Haus der Familie in Terracina. Ich kannte Rom und Südtirol, aber nicht Terracina. Das liegt eine gute Stunde südlich von Rom auf dem Weg nach Neapel am Meer. Die Pinien duften, die sanften Wellen des tyrrhenischen Meers rauschen, der Monte Circeo, an dem Circe Odysseus und seine Gefährten um den Verstand gebracht haben soll, ist nicht weit.
Ein provokanter Bubenstreich
Terracina ist ein Traum nicht nur für jugendliche Münchner. Ich war damals vielleicht 12 Jahre alt. Den Ort kannte ich vom bayerischen Humoristen Gerhart Polt, der hier jedes Jahr seine Ferien verbrachte und einen unvergesslichen Film über die Welt der deutschen Urlauber in Italien mit dem Titel "Man spricht deutsh" gedreht hat.

Am letzten Ferientag geht die Familie Löffler noch einmal schwer bepackt an den Strand. Als der Vater einen Parkplatz in Strandnähe sieht, stürzt er sich auf den Platz, Frau Löffler verjagt sogar einen italienischen Konkurrenten für den Parkplatz. Zufrieden gehen die Löfflers an den Strand und regen sich über "diese Italiener" auf, wobei sie sich im Allgemeinen immer selbst danebenbenehmen. In seinem Subtext handelt der Film von einer schwierigen Nachbarschaft, von deutschen und italienischen Stereotypen und letztlich, ganz tief, auch von einer nie vergangenen Vergangenheit. Die Löfflers kommen aus dem Landkreis Dachau. Dachau ist Synonym für das erste von den Nationalsozialisten errichtete Konzentrationslager.
Diese Geschichte schwang auch bei mir und meinem ersten Mittelmeerbesuch mit. Mit Florian aßen wir gelato, spielten Tischfußball gegen die italienischen Kinder, bauten Sandburgen und bewunderten eine junge Strandschönheit namens Giovanna. Einmal kam am Strand ein gleichaltriges italienisches Kind in unsere Nähe. Es hatte verstanden, dass wir aus Deutschland stammten, und grüßte uns mit "Heil Hitler!". Wir erstarrten im Sand.
Erst als wir langsam zur Besinnung gekommen waren, überlegten wir unsere Reaktion. Ich glaube, wir führten den Plan nie aus. Aber unsere Antwort hätte darin bestanden, den ragazzo auf die italienische Vergangenheit hinzuweisen - mit einem Verweis auf den faschistischen Diktator Benito Mussolini. Wir wollten mitteilen, dass der Junge nicht uns auf unsere Vergangenheit hinweisen bräuchte, wenn er als Italiener doch selbst ein erhebliches Pro-blem mit der eigenen Geschichte hätte. Die Geschichte des 20. Jahrhunderts prägte diese Begegnung von Kindern am Strand.
Es sollte ein Strandurlaub werden, harmlos, frei, kurzweilig. Und doch ist mir vor allem der Hitler-Gruß des italienischen Jungen aus meinem Terracina-Urlaub in Erinnerung geblieben. Es war nur ein Bubenstreich, eine Provokation. Aber die Episode grub sich in meine Erinnerung ein. Und warum kommt sie nun wieder hervor?
Marsch auf Rom 1922
Man könnte die Vergangenheit einfach Vergangenheit sein lassen. Das ist das erklärte Ziel vieler Menschen, auch derer, die sich um das Gemeinwohl sorgen. Schließlich ist die Gegenwart mit allen ihren Problemen schon herausfordernd genug. Nach kollektiven Katastrophen wie totalitären Systemen oder Bürgerkriegen gibt es zudem die Tendenz, um des gegenwärtigen, empfindlichen Friedens willen, nicht in der Vergangenheit zu rühren. Wenn die Verbrechen nicht so sehr zum Himmel schreien wie die des Holocaust, wird oft eine Amnestie verabredet. In Italien und Spanien war das der Fall.
Man hofft so, die Vergangenheit sich selbst zu überlassen. Dieser Ansatz ist gut gemeint und auch pragmatisch, aber er funktioniert nicht. Genauso wenig funktioniert die Justiz der Sieger. Und damit wäre man bei der Frage: Was ist Gerechtigkeit?
An diesem Wochenende wird in Italien gewählt. Und Benito Mussolini ist wieder in aller Munde. In den italienischen Buchhandlungen liegen Bücher in den Vitrinen, die den duce und den italienischen Faschismus zum Thema haben. "Der lange Schatten des Faschismus", lautet der Titel eines der meistverkauften Bücher dieser Tage, Untertitel: "Warum Italien immer noch an Mussolini hängt".

Hört das denn nie auf? Ende Oktober jährt sich die faschistische Machtergreifung in Italien zum 100. Mal. Mussolinis Marsch auf Rom im Jahr 1922 war der Startschuss des sogenannten ventennio, der mehr als 20 Jahre währenden faschistischen Herrschaft in Italien. Ziemlich genau 100 Jahre später dürfte eine gewisse Giorgia Meloni das Mandat zur Bildung der neuen italienischen Regierung bekommen. Meloni führt die postfaschistische Partei "Brüder Italiens" an, die wohl stärkste Kraft bei der Wahl werden wird. Sie war als Jugendliche und junge Frau eine Verehrerin Mussolinis und mag den duce auch heute noch, auch wenn sie das so nicht mehr sagen kann. Wie ist das möglich?
Kollektive Traumata
Manchmal heißt es, Geschichte wiederhole sich. Sie wiederholt sich nicht. Und eine demokratisch gewählte Regierung Meloni hat nichts mit dem brutalen faschistischen Regime ab 1922 zu tun. Aber Geschichte, wenn wir uns ihre Folgen nicht klarmachen und in einem inneren Prozess betrachten, präsentiert sich uns in Variationen wieder. Das hat mit den persönlichen und kollektiven Traumata zu tun, die gesellschaftliche und persönliche Katastrophen mit sich bringen. Die Traumata, die wir alle am liebsten vergessen und vor allem nicht mehr spüren wollen, sind der Schlüssel zu unserer Gegenwart.
Die herkömmliche Methode im Umgang mit diesen Traumata ist, sie zu ignorieren. Erst, wenn der Leidensdruck zu groß wird, ist der eine oder andere bereit, sich von einem Therapeuten helfen zu lassen. Was wir aber nicht haben, ist jemand, der unsere kollektiven Traumata behandelt. Das 20. Jahrhundert war das blutigste Jahrhundert aller Zeiten. Über 100 Millionen Menschen starben in den Kriegen. Wir meinen oft, insbesondere im Westen, Zeugen eines unwiederbringlichen Fortschritts zu sein. Menschlich betrachtet, wenn wir also den Umgang von uns Menschen miteinander ansehen, fällt die Bilanz - bei allen positiven Ausnahmen und Beispielen - verheerend aus.
Die kollektiven Traumata sitzen ebenso tief wie die persönlichen, vielleicht tiefer. Totalitaristische Systeme, Bürgerkriege, die Verfolgung von Minderheiten, Unterdrückung von Volksgruppen, Kriege. All das sind kollektive Traumata, die unsere Gesellschaften bis heute prägen, auch wenn die Ereignisse 40, 80 oder 100 Jahre zurückliegen. Opfer leiden unter Traumata, aber nicht nur sie. Auch auf Seiten derjenigen, die für die Taten verantwortlich waren, können Traumatisierungen erfolgen. Wer einem anderen Menschen schweres Leid zufügt, ist traumatisiert. Ob er will oder nicht.
Deshalb ist es auch sinnlos, wie Meloni zu behaupten, man habe den Faschismus "der Geschichte überlassen". Man denkt dann, man habe mit dieser Angelegenheit nichts mehr zu tun. Doch hinter dem Schlagwort "Faschismus" verbirgt sich nicht nur in Italien Bekämpfung und Ausgrenzung Andersdenkender, eine menschenverachtende Rassenideologie, systematische Vernichtung vermeintlich minderwertiger Menschen, ein wahnsinniger Eroberungskrieg, Kolonialverbrechen und vieles mehr. Menschen litten unter dieser Ideologie, Urgroßeltern, Großeltern, Eltern, mit anderen Worten: Familien.
Blick in eigene Familie
Alle diese Verbrechen, bei denen Menschen massenhaft zu Schaden kamen, haben Folgen, die bis heute spürbar sind. Man mag sich nur einmal eine einzelne, am besten die eigene Familiengeschichte ganz genau ansehen. Dann können Verbindungen der damaligen Geschehnisse zum eigenen Leben hervorkommen. Wie gingen Vorfahren, die Gewalttaten selbst miterlebten, mit ihren Traumata um? Sprachen Sie offen über das Erlebte oder verschwiegen sie es? Insbesondere in Deutschland, Italien und Österreich sollten wir erst einmal skeptisch angesichts des Familiennarrativs sein. Denn die Familie ist unser Zuhause, wir gehören ihr an, sie gibt uns die erste Identität. Wir schützen diesen Hort deshalb um jeden Preis. Wir wollen keine Schatten auf ihrer Geschichte.
Man kann sich fragen, welche Ereignisse der Familiengeschichte ausgespart oder geschönt werden. Insbesondere bei den Täterfamilien gibt es einen verständlichen Drang, das begangene Unrecht zu minimalisieren. Will ich Bescheid wissen? So lautet deshalb die Grundfrage. Es scheint ein natürliches Bedürfnis, die eigene Sippe nicht in Schwierigkeiten zu bringen und das Familiennarrativ loyal fortzuspinnen, es nicht in Frage zu stellen oder mit den Angehörigen zu schweigen. Auf diese Weise entstehen Tabus. Und Tabus entfalten Wirkung.
Der Schmerz über den gewaltsamen Verlust eines geliebten Angehörigen etwa ist manchmal so groß, dass er zum Tabu werden muss. Ebenso die Scham über schlimme Taten der Vorfahren. Diese Befunde hatten im 20. Jahrhundert das Zeug zum kollektiven Trauma, denn welche Familie in Italien, Österreich oder Deutschland war nicht auf die eine oder anderer Weise involviert, auf der einen oder auf der anderen Seite? Gut möglich, dass der Hitler-Gruß des Jungen in Terracina Ende der 1980er Jahre nur eine harmlose Provokation war. Vielleicht steckte aber mehr hinter der Geste. Terracina übrigens hatte die letzten Jahre Bürgermeister aus der Meloni-Partei.

"Wenn eine innere Situation nicht bewusst gemacht wird, erscheint sie im Außen als Schicksal." Diesen Satz hat der Begründer der analytischen Psychologie Carl Gustav Jung über die Macht des Unbewussten geschrieben. Wir alle sind persönlich, kollektiv, transgenerational in die Geschichte des 20. Jahrhunderts verwickelt, ob wir wollen oder nicht. Wir machen uns das meistens nicht bewusst, mit entsprechenden Folgen.
Und ja, Giorgia Meloni ist eine Rechtspopulistin, Postfaschistin, sie ist nationalistisch und europafeindlich. Man kann das gut finden oder darüber den Kopf schütteln, dem Antagonismus sind keine Grenzen gesetzt. Fast scheint es jetzt manchmal so, als lodere der ideologische Kampf von damals wieder auf, Rechts gegen Links, Faschisten gegen Antifaschisten. Vor allem die Antifaschisten schütteln heute fassungslos den Kopf. "Wie kann das sein?", fragen sie.
Spielball der Interessen
Das ist die Variation in der sich wiederholenden Geschichte. Wenn wir die Schatten nicht anschauen, kommen sie zurück. Und dabei genügt es nicht, die Geschichte von Historikern aufarbeiten zu lassen, Ausstellungen zu machen, Denkmäler einzuweihen, eine Gedenkkultur zu schaffen. Die Geschichte wiederholt sich in Variationen, solange wir nicht uns selbst und unsere Familien in Beziehung zu den traumatisierenden Ereignissen setzen. Wir müssen in uns selbst und in unsere Familien hineinschauen, wenn wir die irritierende Gegenwart verstehen wollen.
Würden die Italienerinnen und Italiener Carl Gustav Jung ernst nehmen, könnten sie sich fragen, welche innere Situation sie sich angesichts des bevorstehenden Wahlsieges von Giorgia Melonis "Brüdern Italiens" nicht bewusst machen. Es ist eine große, schwierige Frage, die natürlich auch alle anderen kollektiv traumatisierten Nationen in ihrer jeweiligen Gesellschaft und mit ihren jeweiligen Extremismen betrifft. Alle Extremismen deuten auf nicht verarbeitete Traumata hin. Die Antwort führt im Fall Italiens direkt ins Jahr 1922.
Die Geschichte ist bis heute Spielball der Interessen und der Standpunkte. Das liegt vor allem an den jeweiligen Familiengeschichten und transgenerational weitervererbten Traumata. Wer einen Großvater im antifaschistischen Widerstand hatte oder eine nach Auschwitz deportierte Großmutter, der kann natürlich die "positiven Seiten" des Faschismus nicht erkennen, die angebliche Ordnung, das Trockenlegen von Sümpfen, die Einführung der Pensionen.
Diese Dinge, die von vielen Menschen in Italien nun wieder angeführt werden, wenn es um Mussolini geht, sind völlig unerheblich im Vergleich zum massenhaften Leid. Jede Apologie des Faschismus lässt alte Wunden wieder aufbrechen. Italien ist sich über die Auswirkungen des Faschismus und die Beteiligung am Holocaust bis heute kollektiv nicht bewusst.
Eine andere Geschichte, die bis heute tabuisiert wird, ist die Partisanen-Gewalt gegen Mitglieder des faschistischen Regimes nach 1945. Der linksgerichtete, 2020 verstorbene Journalist Giampaolo Pansa hat die Racheakte der Resistenza, die Massenexekutionen, Akte der Folter und Vergewaltigungen in seinem Buch "Il sangue dei vinti" ("Das Blut der Besiegten", 2003) beschrieben und damit das Narrativ vom heroischen Widerstand, dem Italien seine republikanische Staatsgründung und seine Verfassung verdankt, in Frage gestellt. Die Partisanen kämpften gegen die Faschisten und Nazideutschland, in vielen Fällen waren sie Opfer. Aber sie waren auch Täter.
Pansa war der Erste, der an dieses Tabu rührte und damit die antifaschistisch geprägte Identität der italienischen Gesellschaft in Frage stellte. Die Spaltung war stets zu erkennen. In Italien gibt es diejenigen, die den Jahrestag der Befreiung vom Nazifaschismus am 25. April feiern, und diejenigen, die den Gedenktag am liebsten abschaffen wollen. Viele davon sind Anhänger Melonis. Das Tabu, das Pansa brach, war so groß, dass er einmal sogar tätlich angegriffen wurde, Lesungen nur noch unter Polizeischutz abhielt und schließlich ganz auf sie verzichtete. So unbequem und so schwer zu akzeptieren ist die Wahrheit.
Erlittene Schmerzen
Pansa berichtete erst vor zehn Jahren, er habe etwa 20.000 Leserbriefe vor allem von Frauen, auch jüngeren Alters bekommen. "Sie alle erzählen mir von gelebtem Leben, von erlittenen Schmerzen, von ertragenen Schändlichkeiten", schreibt er im Vorwort der Neuausgabe 2013. Man kann nun mutmaßen, welche politische Einstellung diese Familien heute haben, die die Verherrlichung der Resistenza miterleben und deren eigenes Familienschicksal nie anerkannt wurde. Was ist im 20. Jahrhundert in den Familien derjenigen passiert, die am 25. September die Postfaschistin Giorgia Meloni wählen werden?
Jeder von uns hat seine (Familien-)Schatten, die gesehen werden wollen. Könnte der Aufstieg der Postfaschisten mit Carl Gustav Jung ein äußeres Schicksal sein, das auf der Missachtung einer inneren Situation, der Aufrechterhaltung des Tabus zur massenhaften Partisanengewalt beruht? Statt antagonistisch über die Geschichte zu streiten, statt Faschismus oder Resistenza zu verherrlichen, stünden dann endlich die Menschen und die von ihnen erlittenen und begangenen Taten im Vordergrund.
Wir brauchen einen Blick, der zurück zu den Menschen geht. Wenn diese Schicksale anerkannt sind, wenn alle Schicksale anerkannt sind, dann gibt es nichts mehr zu verteidigen.
Julius Müller-Meiningen, 1977 in München geboren, ist seit 2008 freier Korrespondent in Rom und schreibt für zahlreiche deutschsprachige Medien.