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Die Schlucht unter dem Eis

Von Roland Knauer

Wissen
Die dunkelbraune senkrechte Linie in der Mitte zeigt die riesige Schlucht.
© University Bristol

Forscher entdeckten den "Grand Canyon" von Grönland.


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Wien. Wer bisher annahm, am Anfang des 21. Jahrhunderts würden die Landkarten die gesamte Erdoberfläche gut wiedergeben, den belehren Jonathan Bamber von der Universität im englischen Bristol und seine Kollegen jetzt in der Zeitschrift "Science" eines Besseren: In Grönland haben die Kartografen bisher eine Schlucht mit nahezu den Ausmaßen des Grand Canyon in den USA glatt übersehen.

Das tief eingeschnittene Flusstal erklärt obendrein den Wissenschaftern besser als vorher das Verhalten der Eiskappe, die Grönland seit mehr als 3,5 Millionen Jahren bedeckt.

Genau dieser im Durchschnitt 2000 Meter und stellenweise bis zu 3400 Meter dicke Eispanzer hat den Canyon bisher vor den Augen der Kartografen verborgen. In dieser Mächtigkeit ist Eis schließlich nicht nur für normales Licht, sondern auch für viele Radarstrahlen undurchsichtig. Wie eine Tarnkappe verbarg das Eis daher die darunter liegende Schlucht.

Karte aus Radardaten erstellt

Während die meisten Radarstrahlen von der Eisoberfläche reflektiert werden, dringen aber bestimmte Wellenlängen durch das Eis bis zum Felsbett unter dem Gletscher. Von Flugzeugen aus erkundeten Forscher der US-amerikanischen Weltraumbehörde Nasa sowie britische und deutsche Wissenschafter mit solchen Radar-Frequenzen in den letzten Jahrzehnten das Grönlandeis und seinen Untergrund.

Aus einer riesigen Fülle solcher Radardaten setzten die Forscher dann eine Karte des Bodens unter dem Gletschereis zusammen und Jonathan Bamber staunte: "Unsere Forschung zeigt, dass es noch eine Menge zu entdecken gibt." Damit meint er eine gigantische Schlucht, die sich vom Zentrum Grönlands tief unter dem Eis mindestens 750 Kilometer weit nach Norden bis zu einem tiefen Fjord zieht.

Stellenweise ist diese Schlucht 800 Meter und damit nicht einmal halb so tief wie der Grand Canyon, der andererseits wiederum mit insgesamt 450 Kilometern deutlich kürzer ist. Auch mit ihrer Breite von bis zu zehn Kilometern kann die Schlucht unter dem Grönlandeis durchaus mit ihrem Pendant in den USA mithalten, das sechs bis 30 Kilometer breit ist.

Länge des Rheins

Möglicherweise erreicht die Schlucht sogar die Länge des Rheins, der über 1239 Kilometer von den Alpen bis in die Nordsee strömt, aber bei Weitem keine so ausgeprägten Schluchten in die Landschaft gefräst hat. Die Forscher konnten schließlich den Grönland-Canyon ungefähr vom Zentrum der Insel aus bis zur Nordküste kartieren. Weiter im Süden aber reicht die Auflösung der Radar-Daten nicht aus, um ein flacheres Fluss-System zu beobachten, das den Oberlauf bilden könnte.

Nach Meinung der Forscher fließt in dieser gigantischen Schlucht tatsächlich ein Fluss. Und das schon vor der Zeit, als vor mehr als 3,5 Millionen Jahren der Eisschild über Grönland entstand. Der gewaltige Druck der tausende von Metern dicken Eisdecke lässt am Grund das Eis ein wenig schmelzen. Normalerweise gleitet der Eispanzer auf diesem Schmelzwasser viel besser als ohne Wasserfilm. In der Antarktis sammelt sich dieses Wasser tief unter dem Eis zu Seen, die bis zu 250 Kilometer lang und 1200 Meter tief sind.

Unter dem Grönlandeis sammelt sich das Schmelzwasser dagegen vermutlich vor allem in der Schlucht unter dem Eis. Dort fließt es dann als mächtiger Strom nordwärts und mündet für menschliche Augen unsichtbar in das Nordpolarmeer. Weil dieser Strom unter dem Eis das Wasser am Grund des Eispanzers rasch ableitet, sammelt es sich anders als in der Antarktis daher nicht in Seen verschiedener Größen. Tatsächlich konnten Forscher bisher unter dem Grönlandeis auch keine Seen entdecken.

Besseres Verständnis

Obendrein fehlt das rasch abgeleitete Schmelzwasser auch als Schmiermittel für den darüber liegenden Gletscher. Die entdeckte Schlucht in der Tiefe lässt das Eis also fester am Untergrund haften. Seit das Wissenschafterteam um Jonathan Bamber den Grönland-Canyon entdeckt hat, kann es daher nicht nur den Untergrund des Eispanzers sehr gut beschreiben, sondern versteht außerdem die Dynamik des Eisschildes besser als noch vor dieser Entdeckung. Damit aber können die Forscher überdies auch besser einschätzen, wie das Grönlandeis in ferner Zukunft auf den fortschreitenden Klimawandel reagieren dürfte.