Weltweit arbeiten gewisse Leute nach dem Motto: Wenn du nicht tust, was ich will, bringe ich dich in Verruf. Je anständiger ein Mensch ist, desto überraschter, betroffener und unroutinierter wird er im Fall der Fälle reagieren.
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Perfektioniert haben diese Taktik Enthüllungsjournalisten, die als Quelle des schiefen Lichts dem Begriff der vierten Gewalt eine besondere Bedeutung geben: Menschen, die nicht spuren, müssen mit negativer Berichterstattung rechnen. Wenn sich etwa beamtete Geheimnisträger bei der Recherche eines Journalisten auf das Amtsgeheimnis berufen, kann es schon sein, dass sich einige Zeit später ein kritischer Bericht über sie in einer Zeitung findet.
Besonders beliebt ist in diesem Zusammenhang die Aufdeckung von Stillosigkeiten und anderen menschlichen Schwächen, weil es bekanntlich kein Rechtsmittel gegen derartige Verurteilungen gibt. Die Informationserteilung über die Grenzen des Strafrechts hinweg kann für empfindliche Kleinbürger eine Frage des gesellschaftlichen und beruflichen Überlebens werden. Wer meint, sich die Entwürdigung "nicht gefallen" lassen zu können, tappt in die Falle des Qui sexcuse, saccuse.
Freiwild der Szene sind Politiker. Wolfgang Schüssel kann ein Lied davon singen: Die Aufdeckung einer Pflegegeschichte im Familienbereich, die sich später als frei erfunden herausstellte, trug zu seiner knappen Wahlniederlage im Jahr 2006 bei.
Beliebteste Opfer sind unerfahrene Politiker. Der sich gerade ein paar Monate im Amt befindlichen Justizministerin ein paar Formulierungen aus den Akten der Staatsanwaltschaft um die Ohren zu werfen, muss Insiderkreisen ein geradezu höllisches Vergnügen bereitet haben. Eine Justizministerin, der die Politik zweitrangig erscheint, die dem Gesetz zum Durchbruch verhelfen will, die bessere materielle und personelle Ausstattung des Ressorts fordert und nach wie vor an ihre eigene Unabhängigkeit glaubt, ist dem System verdächtig. Bezeichnet sie dann noch den offensichtlichen Bruch des Amtsgeheimnisses als solchen und kündigt öffentlich Tätersuche an, reagiert der Enthüllungsjournalismus rasch - mit der Veröffentlichung des nächsten Aktes. Motto: Liebe Politiker, wir lassen uns vom Strafgesetzbuch nicht einschüchtern - uns schützt das Redaktionsgeheimnis. Es lebe der Machtkampf zwischen den Gewalten.
In Österreichs Medien ist immer mehr eine Verrohung der Sitten zu beobachten: Anklageschriften werden Tage nach ihrer Fertigstellung publiziert, Vorverurteilungen stehen auf der Tagesordnung, die Zitierung der Unschuldsvermutung ist die Königin der Leerformeln. Wie so oft in der Geschichte stellt sich die ewige rechtsphilosophische Frage: Wer bewacht die Wächter?
Nicht nur die Wirtschaft braucht eine Ethik - auch der Journalismus. Andernfalls wird die Enthüllung des Enthüllungsjournalismus in Zukunft einen ganz anderen Verdacht aufkommen lassen: Der Verdächtige muss irgendetwas ganz richtig gemacht haben!
Dr. Georg Vetter ist Rechtsanwalt in Wien.