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Die Schrift als Spiegel der Persönlichkeit

Von Hans-Joachim Weber*

Wirtschaft

Obgleich nicht unumstritten, behauptet die Graphologie ihren festen Platz unter den Auswahlverfahren. Sie ist eine der ältesten Methoden zur Persönlichkeitsdiagnostik.


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Hat die von vielen Psychologen geteilte Auffassung Gültigkeit, jede menschliche Äußerung spiegle im Prinzip die Gesamtpersönlichkeit wider, bilden Schriftelemente und Schriftbild ein komplexes und zugleich differenziertes Ausgangsmaterial für die Persönlichkeitsanalyse. Allerdings sei davor gewarnt, aus Schriftanalysen oder den Ergebnissen anderer psychologischer Methoden auf das tatsächliche Verhalten in bestimmten Situationen zu schließen.

Graphologie als Methode

Die Graphologie ist ein so genanntes Ausdrucksverfahren. Die Schrift, das Schriftbild, die Verteilung des Geschriebenen im Raum und nicht zuletzt sein Inhalt drücken die Persönlichkeit des Schreibers aus. Sie stellen eine kodierte Information dar, die der Graphologe dechiffriert. Für die Dekodierung bedient er sich einer Reihe mehr oder minder gesicherter Erkenntnisse über die Wechselbeziehungen zwischen Persönlichkeits- und Intelligenzmerkmalen mit der Schriftgröße, der Schriftstärke, der Schriftlage, usw. Für den überzeugten Graphologen bildet die Schrift nicht nur getreulich die Persönlichkeit des Schreibers ab, sondern sie manifestiert auch sein Beziehungsverhalten zu anderen Menschen.

Wissenschaftliche Zweifel

Für die Gegener der Graphologie war diese stets mit dem Odium der Wahrsagerei behaftet. Viele ernst zu nehmende Forscher haben ihr auch den Rang einer wissenschaftlichen Methode abgesprochen, weil bis heute keine eindeutigen, unmissverständlichen und stets gültigen Wechselbeziehungen zwischen Schrift- und Persönlichkeitsmerkmalen nachgewiesen werden konnten. Dennoch wird die Graphologie auch häufig bei der Personalauswahl eingesetzt.

Graphologie am Prüfstand

Ein Vergleich von Gutachten verschiedener Graphologen zeigt, dass diese in Stil und Inhalt von der Persönlichkeit des Graphologen beeinflusst sind. Zu warnen ist vor rücksichtslosen Gutachtern, die auch vermeintliche kriminelle Veranlagungen oder sonst für den Begutachteten peinliche Defekte "aufdecken". Bei kritischer Würdigung aller Bestätigungs- oder Widerlegungsexperimente könnte man die Graphologie als eine sinnvolle und auch ethisch vertretbare Methode bezeichnen, wenn sie unter bestimmten Voraussetzungen und Bedingungen angewendet wird.

Die gesamte Geschichte der Persönlichkeitsdiagnostik ist vom Wunsch geprägt, ein einfaches und zuverlässiges Instrument zur Enthüllung des mitmenschlichen Charakters zu finden. Da der Mensch seine Außenwirkung steuern kann, wurde nach untrüglichen, vom Menschen nicht beeinflussbaren Phänomenen gesucht, die zuverlässige Auskunft über seinen Charakter geben. Allerdings kann auch die Handschrift - je nach Begabung - beliebig verändert werden.

Bemerkenswert ist vor allem der Glaube - von einem zwar nicht unwesentlichen Detail, nämlich der Handschrift - im Blindverfahren mehr und Zuverlässigeres über die Persönlichkeit eines Menschen zu erkunden als etwa in einem strukturierten Interview. Ist es nicht merkwürdig, dass ein Abstraktum wie die Handschrift mehr über den Menschen verraten sollte als er selbst in seiner Gesamtheit?

* Hans-Joachim Weber ist Personalberater in Wien. Ausführlich mit dem Thema Graphologie befasst er sich in der Zeitschrift ASoK, Arbeits- und SozialrechtsKartei, Nr. 5, 2004.