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Die Schule des Krieges

Von Thomas Seifert aus Wuhledar

Politik

Marina lebt seit März 2022 im Schutzkeller und ist dort eine zentrale Figur für die Organisation des Alltags.


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Drei Rufzeichen. So hofft Marina, dass die Botschaft ankommt. "Deti!!! - Kinder!!!" und darunter "Woyennyy Njet!!! - Kein Militär!!!" Marina hat es an die Wand gesprüht, damit klar ist: Hier, im Keller der Schule von Wuhledar, ist ein Schutzraum für Zivilisten.

Die 41-jährige Marina lebt seit fünf Jahren in Wuhledar. Seit dem russischen Angriff am 24. Februar 2022 ist die Bergbaustadt zum Kriegsschauplatz geworden, seither ist hier nichts mehr, wie es früher einmal war. Früher war Marina Direktorin des Wuhledarskyy Koledzh - des College von Wuhledar. Dieses ist längst zerstört, jetzt lebt sie im Schutzkeller der nahegelegenen Schule.

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Am 12. März 2022 kamen Soldaten zu ihr in die Wohnung und sagten ihr, ihre Gegend sei nicht mehr sicher, sie müsse raus aus der Wohnung. Sofort. Hektisch packten Marina und ihr Mann Sergeij ihre wichtigsten Habseligkeiten und Dokumente zusammen und übersiedelten in den Sportkomplex im Keller der Schule. Bald lag dort Matratze neben Matratze.

Und heute? Kleidung hängt an quer durch den Raum gespannten Wäscheleinen zum Trocknen, an der Wand hängen Fotos eines in der Ukraine berühmten Gewichthebers und einer bekannten Gewichtheberin. Eine Karte der Ukraine klebt an der Wand, an einem Haken baumeln zwei leere 6-Liter-Plastikflaschen, in denen sich einmal Karpatska Dzehrelna - Karpatenquelle-Mineralwasser - befunden hat. Seit März 2022 schaffen die Menschen mit diesen Flaschen von irgendwoher Wasser herbei, denn seit dieser Zeit gibt es in Wuhledar kein Fließwasser mehr. Und seit dieser Zeit hängen dutzende solcher Flaschen an den Wänden, Wasserholen ist - neben Brennholz und Nahrung beschaffen - eine der zentralen Aufgaben für die Bewohner des Bunkers geworden.

Bis zum Sommer 2022 lebten hier bis zu 600 Menschen in diesem Keller, überall waren Matratzen und Decken, viele mussten aber auch auf dem nackten Boden schlafen. Aber nach und nach sind die Menschen aus Wuhledar geflüchtet, zuerst die jungen Leute mit Kindern, dann alle, die an anderen Orten in der Ukraine oder im Ausland eine Unterkunft finden konnten. Jetzt leben noch um die hundert Menschen in dem Keller - je nachdem, wie gerade die Lage in der Stadt ist.

Je mehr Artilleriebeschuss Wuhledar erlebt, umso mehr Bewohnerinnen und Bewohner drängen in den Keller der Schule. Die Stadtverwaltung hat die Menschen beschworen, von Wuhledar wegzuziehen. "Seid vernünftig, haben sie zu uns gesagt", erzählt Marina, "vielleicht ist bald wer anderer - gemeint waren natürlich die Russen - hier, da ist es wirklich besser, ihr geht."

Marina erzählt weiter: "Als es kalt wurde und der Winter ins Land gezogen ist, haben wir nochmals darauf gedrängt, dass wir hier Verwaltungsstrukturen brauchen: Feuerwehr, Notarzt und die Post, die zumindest die Pensionen bringt." Da habe es geheißen: "Die normalen Ukrainer sind schon weg. Ihr seid die Wartenden, ihr wartet doch auf etwas oder auf jemanden." - "Ihr meint, auf die Russen?", habe sie gefragt. "Genau", sei als Antwort gekommen.

"Aber die Wahrheit ist", betont Marina, "und das habe ich ihnen gesagt: Wir sind Patrioten, genauso wie alle die, die die blau-gelbe Fahne schwenken. Wuhledar ist unsere Heimatstadt, wir leben hier, hier sind unsere Familien, unsere Freunde. Wir hoffen, dass unsere ukrainische Regierung alles unternehmen wird, damit die Lage hier in der Stadt wieder normal wird. Für mich stellt sich auch die Frage: Warum soll ich gehen? Wohin soll ich gehen? Wie finde ich woanders ein Dach über dem Kopf, wie finde ich woanders Arbeit?" Patriotismus sei nicht nur, die Mülleimer in den blau-gelben Landesfarben anzupinseln, sondern Patriotismus sei, den Müll in den Mülleimer zu werfen und nicht daneben, weil man weiß, dass man die eigene Stadt sauerhalten soll, sagt Marina.

Schlüsselfigur im Schutzkeller

Die 41-Jährige ist eine Schlüsselfigur im Schutzraum unter der Schule. Wenn Freiwillige Essen bringen, kümmert Marina sich um die Verteilung. Wenn Menschen in den Schutzraum kommen, um ein Feuer nach einem Granateneinschlag in einem Wohnkomplex zu melden, dann ist sie diejenige, die ein paar Freiwillige zusammentrommelt, die zum Brand laufen und versuchen, das Feuer zu löschen oder zumindest einzudämmen. Denn die Feuerwehr hat Wuhledar längst verlassen, die zivile Bevölkerung ist hier auf sich alleine gestellt, wenn es darum geht, die Feuer in der Stadt zu löschen. "Und weil es auch keine Klinik und keinen Arzt mehr in Wuhledar gibt, ist es auch schon vorgekommen, dass wir hier in diesem Bunker die Wunden von Granaten-Opfern notdürftig operiert haben."

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Sergeij, Marinas Mann, sitzt neben ihr auf einem kleinen Schemel. Er hat 27 Jahre lang in der Kohlemine gearbeitet und ist viel weniger gesprächig als seine Frau. Doch an diesem Punkt mischt er sich ins Gespräch ein: "Sehen sie, unter anderem wegen ihrem Zupacken und ihrem Organisationstalent habe ich sie geheiratet. Sie ist hier die Autorität, sie ist extra-smart", sagt Sergeij und wirft seiner Frau einen bewundernden Blick zu. Marina spricht schon wieder weiter. Einmal hätten Soldaten Waffen in den Keller der Schule gebracht, erzählt sie. "Aber überall, wo Soldaten sind, ist auch ein mögliches Ziel. Wir hatten einmal eine Granatwerferposition auf dem Dach der Schule. Also mussten wir die Soldaten dazu bringen, woanders hinzugehen, damit wir nicht beschossen oder bombardiert werden."

Angst vor der Dunkelheit

Aber warum gehen die Menschen nicht weg aus Wuhledar? "Viele sind weg. Aber seien wir ehrlich: Wir gehören hierher, niemand braucht uns in den anderen Teilen des Landes, da gibt es überall schon genügend Geflüchtete." Marina wird im Laufe des Gesprächs immer nachdenklicher. "Ich habe mich in diesem Jahr Krieg sehr verändert. Ich kannte das Gefühl von Hass nie. Ärger - vielleicht. Wut - manchmal. Aber Hass - das habe ich nie verspürt. Dieses Gefühl kenne ich nun - und es wird stärker. Und das macht mir richtig Angst."

Auf die Frage, ob sie der Krieg in die Dunkelheit ziehe, in einen mentalen Abgrund, antwortet Marina: "Nein - der Krieg bringt einen schon näher an diese Dunkelheit, an die Angst, das mag schon stimmen. Aber der Krieg hat uns in diesem Keller zusammengebracht, alle sind hilfsbereit wie noch nie, wir unterstützen einander, hören einander zu." Sie habe in diesem Krieg viel über sich selbst und den wahren Wert der Dinge gelernt, sagt sie. Nicht, dass sie diese Lektion gebraucht hätte, fügt sie hinzu, "aber einfache Dinge wie Fließwasser, Strom, Brot haben für mich einen ganz neuen Wert bekommen. Wir haben alles verloren, aber noch haben wir einander. Wir helfen einander hier in diesem Schutzkeller, und wir helfen einander von Bunker zu Bunker - wo auch immer in Wuhledar noch Einwohner sind."

Jeder Krieg ende irgendwann, betont Marina. "Ich bin keine Politikerin, ich kann nicht sagen, welches Territorium welcher Staat für sich beanspruchen kann oder soll. Aber ich kann eines sagen: Jeder wartet auf Frieden."