Es gelingt nicht, das Vorwissen in den organisierten Lernprozess zu integrieren.
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"Wiener Zeitung": Was du mir sagst, vergesse ich. Was du mir zeigst, daran erinnere ich mich. Was du mich tun lässt, das verstehe ich. - Dieses Zitat stammt von Konfuzius und wird von der Hirnforschung immer wieder bestätigt. Warum werden Kinder trotzdem nach den gleichen Methoden wie seit Jahrzehnten unterrichtet?Christa Koenne: Es ist weder möglich noch sinnvoll, die nächste Generation alle Erfahrungen machen zu lassen, die unser heutiges Wissen begründen. Es macht schon Sinn zu verknappen, zusammenzufassen, auf den Punkt zu bringen. Nichtsdestotrotz ist der Auftrag, Erfahrungen zu sammeln, nicht obsolet geworden. Erfahrungen machen Menschen ständig, nicht nur in der Schule. Ich sehe es als eine Schwachstelle im schulischen Alltag, dass es nicht gelingt, dieses Wissen, diese Kompetenzen in den organisierten Lernprozess zu integrieren. Schule hat das Monopol der Wissensvermittlung verloren. Unsere Schüler wissen viel, was nicht wir ihnen beigebracht haben. Das ist auch eine Irritation, denn sie bedeutet, dass andere Methoden des Unterrichtens, jenseits des Frontalunterrichts, andere Lernumgebungen angeboten werden müssen. Schule muss sich ändern - und sie verändert sich - weil die Kinder anders sind.
Warum sind die Kinder verschiedener als früher?
Sie bringen entsprechend ihrem gesellschaftlichen Umfeld ein unterschiedliches Vorwissen, ein Alltagswissen mit. Ein Beispiel: Im Chemieunterricht wird erklärt, dass Materie aus Atomen besteht. Draußen wird ihnen gesagt, ein atomfreies Österreich wäre doch besser. Begriffe werden verschieden verwendet. Dazu kommt, dass das Wissen ständig steigt. Wir können aber nicht immer mehr lernen. Das heißt, wir müssen anders lernen und die Gesellschaft muss klarer verbindlich machen, was am Schulende erreicht werden soll. Lehrpläne sind Wunschprosa und nicht erfüllbar.
Es wird gelehrt, es wird gelernt, geprüft und schließlich vergessen.
Es wird nicht nachhaltig gelernt. Das Wissen steht nicht zur Verfügung, wenn es gebraucht wird. Die Schüler können vielleicht Prozentrechnen für die Beispiele, die die Lehrer geben. Aber schon im Verkaufsshop wissen sie nicht mehr, was es bedeutet, es wird billiger oder teurer, oder wie die Information über die Finanzbörsen zu verstehen sind.
Die Bildungspolitik konzentriert sich auf die Frage "Gesamtschule ja oder nein?". Doch was inhaltlich und methodisch an den Schulen passiert, wird kaum in Frage gestellt. Wo soll verändert werden - in der Klasse oder im System?
Im System. Wir brauchen keine Regelstandards, sondern Mindeststandards. Aber Schule darf sich nicht darin erschöpfen, dass nur Mindeststandards erreicht werden. Es geht auch um Individualisierung. Da müssen Stärken gestärkt und Begabungen gesucht werden. Meine Vision einer guten Schule ist die Trennung zwischen Kern und Erweiterung. Kernstoff im Sinne von Verbindlichkeit für alle. Wer mit minimaler Zeit auskommt, der braucht Angebote. Das macht dann Freude auf noch mehr lernen. Das kommt dann auch in den Klassen an. Ja, wir brauchen die gemeinsame Schule der Schulpflichtigen und ganztägige Schulen. Aber wir müssen genauer schauen, wer bei den Veränderungen die Verlierer sind. Das sind zum Beispiel die AHS-Lehrer der Unterstufe, die es gewohnt sind, nur für die Besseren da zu sein und die mit der Vorstellung von homogenen Lerngruppen arbeiten. Auch jene Eltern, die für sich selbst den sozialen Aufstieg über Bildung erlebt haben, wollen Bildung vererben wie Haus und Grund. Sie wollen keine weitere Konkurrenz für ihre Kinder. Das ist gut nachvollziehbar, gesellschaftlich muss man aber ein anderes Interesse haben. Wir dürfen Begabungen nirgends verlieren, sondern müssen sie fördern. Es braucht eine politische Entscheidung.
Wer soll Bildungsziele festlegen?
Das ist gar nicht so wichtig. Hauptsache, es geschieht. Aber für die Mindeststandards braucht es eine klare Vorgabe.
Die Wertschätzung gegenüber den Schulen hat sich zum Negativen verändert. Wie kommt das?
Das würde ich so nicht sagen. Der Lehrerberuf speist sich aus zwei Quellen. Das eine ist der Dorfschullehrer - gegen den hat die Lehrerschaft an Nimbus verloren. Er war früher so eine Art High Society mit dem Pfarrer und dem Arzt. Die zweite Quelle ist die Gouvernante. Heute wird erwartet, dass Lehrer dafür sorgen, dass Schüler durch gute Abschlüsse gute Chancen für ihr weiteres Leben haben. Das ist eine andere Erwartungshaltung an die Lehrer.
Früher waren die Kinder sehr wohl im Internat, heute gibt es eher eine Ablehnung gegenüber der Ganztagsschule. Woran liegt das?
Es wird in der Schule nicht mehr gelebt. Schule ist ein Ort geworden, den alle so schnell wie möglich wieder verlassen wollen. Das verhindert Lernen, wenn ich vormittags nur höre, was ich nachmittags lernen soll, damit ich tags darauf geprüft werden kann. Ich habe den Eindruck, die Volksschulen begleiten die Kinder recht gut. Da gibt es viele Persönlichkeiten, die diese Profession zu ihrer Berufsentscheidung gewählt haben. In den AHS finde ich aber Lehrer vor, die ihre Profession im Fach haben und dann als Werbeträger für ihr Wissensgebiet unterrichten. Das ist erst gut für die Zeit nach der Schulpflicht. Die Bildungsziele müssen neu bedacht werden, und am Ende der Schulpflicht brauchen wir Initiationsrituale. Ich bin eine Vertreterin der mittleren Reife. Nicht für die Selektion, sondern, um die Verantwortung für den weiteren Bildungsweg stärker bei den Jugendlichen zu verankern. All diese Verletzungen, wie das Wiederholen einer Klasse, sind während der schulpflichtigen Zeit zu vermeiden.
Sollen Lehrer Führungskräfte oder Partner sein?
Sie sollen Führungskräfte sein. Selbstverständlich. Die Verantwortung für den Lernprozess haben die Experten. Lehrer haben Macht, sie entscheiden nicht zuletzt durch ihre Noten. Daher kommt das Spannungsfeld Elternhaus-Schule. Schule ist ein konfliktschaffender Ort in Familien. Über nichts wird so viel gestritten wie über Schule.
Wie beurteilen Sie die Arbeitssituation für die Lehrer?
Es ist ein Stressberuf. Das lässt sich belegen. So ist zum Beispiel die Differenz zwischen dem, was man für und von sich erwartet, zu dem, was erreichbar ist, groß. In diesem Dilemma ist es schwer, gesund zu leben. Der Beruf ist der schönste, den es gibt, denn wir bereiten die nächste Generation auf das weitere Leben vor. Du musst Vorbild sein und dich zu drängenden Fragen der Zeit positionieren. Wir lassen den Kindern keine heile Welt zurück. Vom Endlager für Kernmaterial bis zur Friedenssicherung.
Also Soziales und Werte lehren?
Alles zeigen, nicht lehren und selber leben. Wir sollten uns so verhalten, wie wir wollen, dass sich die Kinder verhalten. Diese Vorbildfunktion ist wichtig. Lehrer brauchen Optimismus. Wenn man mit Jugendlichen arbeitet, muss man eine positive Zukunftserwartung haben.
Wie soll der Unterricht der Zukunft aussehen?
Offener. Flexibler. Der Umgang mit Zeit muss erfolgversprechender werden. Wir müssen weg von den 50-Minuten-Rhythmen. Warum müssen Wochen so gleich aussehen? Warum kann man nicht Phasen mit Schwerpunkten machen? Die Turn-, EDV- oder Chemie-Räume sollten in einer lernenden Gesellschaft besser genützt werden. Man muss sich die Zeiten, die Rhythmen, neu ansehen und kommt dann ganz allein auf die Lösung, wie besser gelernt werden kann.Zur Person: Christa Koenne ist Bildungsexpertin am Institut für Unterricht- und Schulentwicklung der Alpen-Adria-Universität in Klagenfurt und Leiterin der Senior Academy an der Donau-Universität Krems. 18 Jahre lang war sie als AHS-Direktorin tätig. Sie leitete die Pisa-Science-Gruppe Österreich.
Podiumsdialog "Lernst du noch oder begreifst du schon?" am 27. November um 19 Uhr im Magna Racino Ebreichsdorf. Podiumsgäste: Hannes Androsch, Manfred Spitzer, Christa Koenne. Karten unter www.oeticket.at