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Sprachwissenschafterin Inci Dirim ist gegen eine Ausschlussdiagnostik. | Individuelle Förderung, Deutsch als Zweitsprache und Erforschung der Ethnolekte seien nötig.
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Wien. Viele Änderungsvorschläge hat Inci Dirim für das heimische Bildungssystem. "Es muss eine sehr gute Förderung im Erwerb des Deutschen geben - bei einer maximalen Berücksichtigung der Migrantensprachen", meint die Professorin für Deutsch als Fremd- und Zweitsprache an der Universität Wien. Doch Österreich sei "sehr spät dran" und hinke um Jahrzehnte hinterher. "Österreich ist ein Land der guten Einzelmaßnahmen", lautet der Befund Dirims. Wenig sei institutionalisiert und strukturell verankert. Dirim leitet an der Universität das neu geschaffene Zentrum für Sprachstandsdiagnostik.
Das Zentrum für Sprachstandsdiagnostik arbeitet an einem Verfahren, das den Sprachstand von Kindern möglichst genau abbildet. "Es geht nicht um einen Test, sondern um ein Beobachtungsverfahren." Die klassische Vorstellung von Sprachstand orientierte sich an Faktoren wie Umfang des Wortschatzes oder der Frage, ob Artikel eingesetzt werden. Aus der Forschung wisse man, dass man den Sprachstand aber auch an anderen Dingen ablesen könne, wie der Stellung des Verbs im Nebensatz.
Tests benoten Kinder und teilen sie in Stufen ein. Die Kinder landen dann etwa im Sonderpädagogischen Zentrum und werden so von Förderung ferngehalten. "Wir wollen Förderdiagnostik machen, also nicht ausschließen, sondern Förderung ermöglichen." In die Entwicklung des neuen Sprachstandsdiagnostikverfahrens werden daher unterrichtende Pädagogen miteinbezogen. Sie sollen die Umsetzbarkeit in der Praxis testen. Gleichzeitig wissen sie auch später anhand dieses Instruments, wie welches Kind gefördert werden muss.
Das Besondere an dem Verfahren: Im Gegensatz zu jenen, die es in Deutschland gibt, wird hier auf die Besonderheiten des österreichischen Deutsch eingegangen. Dirim nennt die Verwendung des Perfekts statt des Präteritums sowie Verschiedenheiten im Sprachschatz als Beispiel. Am Ende des Verfahrens steht ein Sprachprofil, das Stärken und Schwächen eines Schülers im Deutschen aufzeigt. Daran soll die individuelle Sprachförderung anknüpfen. Klares Ziel sei: "Lehrkräfte müssen in die Lage versetzt werden, die Kinder optimal zu fördern."
Darüber hinaus soll Deutsch nun als Zweitsprache und nicht als Fremdsprache unterstützt werden. Damit macht man einen Schritt weg vom Europäischen Referenzrahmen für Sprachen. Der Referenzrahmen wurde für den Fremdsprachenunterricht entwickelt. Im Bereich Zweitsprache funktioniere er aber nicht, erklärt Dirim, die insgesamt betont: In Österreich sei man immer noch zu sehr auf "Deutsch als Fremdsprache" fokussiert. Das Thema sei aber "Deutsch als Zweitsprache". Es geht um eine Sprache, in der man künftig zu Hause ist.
Und dieses Thema betreffe im Übrigen nicht nur jene, die Deutsch unterrichten - sondern alle Pädagogen. "Fachkräfte haben oft eine Distanz zu Sprache und nehmen das nicht als ihre Aufgabe wahr. Hier gibt es Berührungsängste, hier muss Überzeugungsarbeit geleistet werden." Dirim fordert daher, dass alle Lehramtsstudierenden ein Deutsch als Fremdsprache-Modul absolvieren müssen. Dazu würden aber die personellen Ressourcen des Lehrstuhls bei weitem nicht ausreichen.
Neue Migrantensprachen
Zusätzliche Ressourcen bräuchte es auch, um migrationsbedingte Mehrsprachigkeit zu erforschen, so Dirim. Dazu gebe es verschiedene Aspekte: einerseits die Herausbildung von Ethnolekten im Deutschen - aber auch punktuelle Einflüsse, die von Migrantensprachen kommen. "In Schweden spricht man etwa nicht mehr von Schwedisch als Zweitsprache, sondern von Mainstream-Schwedisch." Es sei eben so, dass auch das Deutsche von Migrantensprachen geprägt werde.
"Ich verstehe Integration nicht als Assimilation an die Norm des Deutschen", hält die Sprachwissenschafterin dazu fest. "Für mich ist Integration auch, wenn ich sehe, dass sich Migranten aktiv Sprache aneignen mit dem Material, das sie mitbringen." Dirim sagt aber auch: Möglicherweise entstehen Ethnolekte genau dann, wenn so vehement auf den Einsatz des normsprachlichen Deutsch gepocht werde. "Das ist vielleicht auch eine Abgrenzungsreaktion."
Weiters gebe es derzeit noch keine wissenschaftliche Beschreibung der Migrantensprachen, wie sie inzwischen hier in Österreich gesprochen würden. "Die Migrantensprachen entsprechen meist nicht mehr den Sprachen in den Herkunftsländern - hier werden neue Varietäten entwickelt", so Dirim. "Für deren Beschreibung fehlen uns aber ebenso die Ressourcen."
Um Schüler sprachlich möglichst gut zu fördern, spricht sich Dirim für möglichst viele bilinguale Modelle aus und verweist etwa auf das türkisch-deutsche Angebot in Hamburg, das dort auch von deutschsprachigen Eltern gut angenommen werde. Bilinguale Schulen könnten aber auch für den Unterricht an anderen Schulen als Anregung genommen werden: etwa dafür, in multilingualen Klassen alle Sprachen in den Unterricht miteinzubeziehen. Solche Modelle kämen vor allem aus den USA.
Kritisch sieht Dirim den Einsatz von Lehrern mit Migrationshintergrund. So sehr die Mehrsprachigkeit dieser Pädagogen auch nütze, es würden oft auch gesellschaftliche Hierarchien verfestigt. Dirim nennt ein Beispiel: An einer deutschen Schule sei
sie einmal im Unterricht gesessen, der von einer türkisch-sprachigen Lehrerin gehalten wurde. Diese habe, ohne zu wissen, dass Dirim Türkisch spricht, ein Kind gerügt mit den Worten: "Was sollen denn die Deutschen von uns denken". "Da gibt es dann dieses wir und nicht-wir, und ich halte dieses Zurückgreifen auf ethnische Kategorien für sehr problematisch."