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Verfassungsrechtler sehen in der Zweidrittel-Regelung beim differenzierten Schulsystem einen großen Interpretationsspielraum. Der Wiener Verfassungsjurist Heinz Mayer glaubt nicht, dass der Kompromiss zur Schulreform die Einführung der Gesamtschule ermöglichen wird. Sein Kollege Theo Öllinger meint, dass letztlich der Verfassungsgerichtshof entscheiden müsse. (Siehe dazu auch Andreas Unterbergers Kommentar zu diesem Thema.)
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Zwar verweist Mayer darauf, dass die Kompromissformel von der "angemessenen Differenzierung" der Sekundarschule viel Interpretationsspielraum lasse. Er geht allerdings davon aus, dass der Verfassungsgerichtshof (VfGH) diese Passage als Festschreibung von Hauptschule und Gymnasium interpretieren wird.
Theo Öhlinger erklärte im "Kurier", letztlich müsse der Verfassungsgerichtshof entscheiden. Im Radio-Morgenjournal des ORF am Freitag schloss sich Bernhard Raschauer dieser Meinung an. Der VfGH müsse erst die Klarheit schaffen, die die Politverhandler aus Kompromissgründen nicht geschafft hätten. Und Bernd Christian Funk meinte, der Text schaffe Probleme statt sie zu lösen.
Gemäß der erzielten Einigung zwischen ÖVP, SPÖ und BZÖ soll die verpflichtende Trennung der Sekundarschule in Hauptschule und Gymnasium aus der Verfassung gestrichen werden. Stattdessen soll ein neuer Artikel 14 Abs. 6a die Verpflichtung zur "angemessenen Differenzierung" der Sekundarschule festschreiben. Die SPÖ glaubt, diese Verpflichtung auch mit einer "inneren Differenzierung" im Rahmen einer Gesamtschule erfüllen zu können.
Mayer meint zwar, die entscheidende Passage sei "so unbestimmt, dass man beinahe jede Meinung vertreten kann". Aber, so Mayer: "Meiner Einschätzung nach wird der Abs. 6a so gelesen werden, dass er das bestehende System festschreibt." Die bloß "innere Differenzierung" einer Gesamtschule werde nicht ausreichen, "weil nichts darauf hindeutet, dass der Verfassungsgesetzgeber das so wollte".
Eine angemessene Differenzierung bei den Sekundarschulen sei vorzusehen, heißt es im Kompromiss von ÖVP und SPÖ. Funk: "Es lässt völlig offen, woran diese Angemessenheit denn zu messen wäre". Raschauer meinte, es werde mindestens zwei VfGH-Grundsatzerkenntnisse geben müssen, "nämlich was ist die Mindestausstattung an Schulen und was meint der Begriff angemessene Differenzierung".
Funk wie Raschauer kritisieren den Kompromiss von ÖVP und SPÖ: "Das, was hier als Restelement übrig bleibt, ist ein erbarmungswürdiger Rest, der nicht in der Verfassung stehen sollte", so Funk. Raschauer zeigt sich etwas milder: "Verfassungsrechtlich bin ich unglücklich damit, politisch ist das glaube ich ein ganz vernünftiger Kompromiss, der beiden Parteien jeweils ermöglicht, das Gesicht zu wahren".
Dagegen sieht PISA-Chef Günter Haider, der mit der Zukunftskommission die Reformvorschläge ausgearbeitet hat, den Kompromiss als "ein wichtiges Signal, dass es allen ernst ist mit den Reformen". Mit der "angemessenen Differenzierung" sei das Angebot nach den Fähigkeiten der Kinder gemeint, "es ist kein bestimmter Schultyp festgeschrieben", also auch nicht AHS-Unterstufe und Hauptschule. Aber die Formulierung lasse zugegeben viel Platz für Interpretation, so Haider im "Kurier".
Kritik kommt dagegen von Margit Johannik, Elternvertreterin der AHS: "Die Einigung ist eine Entscheidung, wo jeder das Gesicht wahrt". Viel wichtiger sei aber, Reformen auch durchzuführen, "und da gibt es keine Vorschläge". Die von Bildungsministerin Elisabeth Gehrer vorgelegten Schulpakete reichten nicht. "Fördern hätte man jetzt auch schon können, und die Einführung der Fünf-Tage-Woche ist in Ordnung, sie bringt aber keine Qualitätsverbesserung".
Gesamtschule: ÖVP-Nein steht gegen SPÖ-Ja
Gehrer hatte gestern betont, das differenzierte Schulsystem sei klar abgesichert worden. So würde etwa die Verlängerung der Volksschulzeit um ein oder zwei Jahre weiter einer Zwei-Drittel-Mehrheit im Parlament bedürfen, ebenso eine Einführung des finnischen Schulsystems mit einer gemeinsamen Schule bis zum Alter von 15 Jahren. "Das ist ziemlich klar formuliert", so Gehrer.
Die SPÖ hält im Gegensatz zu Bildungsministerin Gehrer die Einführung einer gemeinsamen Schule bis zum Alter von 15 Jahren auch ohne Zwei-Drittel-Mehrheit im Nationalrat weiter für möglich. Die am Mittwoch im Unterrichtsausschuss verabschiedete Regelung stehe dem nicht entgegen, betonte SPÖ-Chef Alfred Gusenbauer bei einer Pressekonferenz am Freitag. Jede Form einer Gemeinschaftsschule sei mit einfacher Mehrheit einführbar, so lange eine "angemessene innere Differenzierung" sicher gestellt sei.
Mit der Vorgehensweise von ÖVP und SPÖ in dieser Frage kann Verfassungsjurist Mayer jedenfalls nichts anfangen: "Das ist in Wahrheit ein Wahnsinn, dass man die schwierigste und umstrittenste Frage einem Gericht überträgt."