Zum Hauptinhalt springen

Die Schweiz könnte die Rosine picken

Von Alexander U. Mathé

Politik

Karas: "Grundrechte der EU sind kein ,Running Sushi‘."


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 11 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Bern/Brüssel. Kleines Land, große Wirkung: Mit der Annahme der "Initiative gegen Masseneinwanderung" hat die Schweiz heftige Reaktionen rund um die Welt ausgelöst. 80.000 neue Zuwanderer kommen pro Jahr in die Schweiz zum Arbeiten - zu viele, findet die Mehrheit der acht Millionen Einwohner. Durch die Initiative muss die Schweizer Regierung innerhalb von drei Jahren jährliche Quoten für die Einwanderung einführen. Das bedeutet, dass sie versuchen muss, das seit mehr als zehn Jahren geltende Abkommen mit der EU über den freien Personenverkehr neu auszuhandeln.

Dass die EU sich darauf einlässt, ist mehr als unwahrscheinlich. Die EU-Außenminister erklärten zwar unisono, das Votum der Schweizer müsse respektiert werden. Doch sei dies auch mit Konsequenzen verbunden. "Da es nicht möglich ist, einzelne Rosinen herauszupicken, gefährdet die Schweiz natürlich das gesamte Vertragswerk mit der Europäischen Union", sagte Österreichs Außenminister Sebastian Kurz. Die EU-Kommission gab sich noch zurückhaltend und wollte "die Folgen dieser Initiative für die Gesamtbeziehungen analysieren". Schärfere Worte kamen aus dem Europäischen Parlament. So erklärte etwa Vizepräsident Othmar Karas: "Die Schweizer stellen eines der Grundprinzipien der Zusammenarbeit zwischen der Schweiz und der EU infrage. Die Grundrechte der EU sind kein ,Running Sushi‘, bei dem man sich einfach herausnimmt, was einem grade schmeckt."

Die Schweiz hat 1999 auf sieben Gebieten - darunter der Personenfreizügigkeit - Abkommen mit der EU verhandelt (die sogenannten Bilateralen I). Dabei wurde eine "Guillotine-Klausel" vereinbart. Das bedeutet, dass bei Kündigung eines der sieben Punkte sechs Monate später auch die anderen außer Kraft gesetzt werden. Was passiert also, wenn die EU eine Nachverhandlung wie angekündigt ablehnt?

"Automatisch ändert sich rechtlich nach dieser Abstimmung rein gar nichts", erklärt Christa Tobler vom Europainstitut der Universität Basel. Zuerst einmal müsse die neue Verfassungsbestimmung durch ein Bundesgesetz umgesetzt werden. Dann erst bestehe rechtlich ein Widerspruch mit dem Abkommen und eine Kündigung könnte erfolgen, wobei die Schweiz mit ziemlicher Sicherheit nicht der Vertragspartner wäre, der das Abkommen kündigt.

Ob die EU tatsächlich - wie bisher angekündigt - eine harte Linie fahren wird, ist schwer abzuschätzen. "Das Verfahren ist sehr schwierig. Es braucht die Zustimmung des Europaparlaments und jedes einzelnen Mitgliedsstaats im Ministerrat", so Tobler Es würde genügen, dass ein einziges Land sagt: "Wir wollen nichts überstürzen."

Allerdings könne es sich die Europäische Union laut Tobler auch nicht leisten, der Schweiz offiziell entgegenzukommen. Schon deshalb nicht, weil in der EU selbst kritische Stimmen zu hören sind; die würden dann ebenfalls Sonderregelungen fordern. So hat etwa Großbritannien als EU-Mitglied in der Vergangenheit ähnliche Forderungen nach Zuwanderungsbegrenzungen wie die Schweiz erhoben.

"EU könnte lediglich politisch Druck ausüben"

"Das wahrscheinlichste Szenario ist die Situation eines Konflikts zwischen dem Abkommen und innerstaatlichem Schweizer Recht. Also sozusagen ein Rechtsbruch", erklärt Tobler. Doch ist die Rechtslage hier etwas schwammig. "Mangels vernünftiger juristischer Mechanismen, mit der Situation umzugehen, würde sich an dieser Situation wenig ändern. Die EU könnte dann lediglich politische Maßnahmen ergreifen, um Druck auszuüben", sagt Tobler.

Brüssel könne etwa die Verhandlungen über das Elektrizitätsabkommen mit der Schweiz aussetzen, über das seit Jahren verhandelt wird und an dem der Schweiz viel gelegen ist. Damit hat etwa der deutsche Europaparlamentarier Andreas Schwab gleich in einer ersten inoffiziellen Reaktion gedroht. Aber es gibt noch andere große Verhandlungspunkte, die in Gefahr geraten könnten: die Institutionalisierung der bilateralen Verträge, Marktzutrittsabkommen im Finanzdienstleistungssektor oder ein Abkommen zur chemischen Industrie.

Schweizer Wirtschaft könnte geschädigt werden

Abseits davon könnte die Initiative auch ökonomische Auswirkungen auf die Schweiz haben. Experten fürchten, dass der Mangel an Fachkräften - zumal im Gesundheitswesen und im technischen Bereich - durch die Initiative verschärft wird. Unternehmen könnten unter diesen Umständen andere Standorte erwägen und allenfalls Arbeitsplätze ins Ausland verlagern. Allerdings ist es laut Boris Zürcher, Leiter der Direktion für Arbeit beim Schweizer Staatssekretariat für Wirtschaft, noch zu früh, um seriöse Aussagen über die Auswirkungen zu machen. Und Martin Neff, Chefökonom von Raiffeisen relativiert: "In den 80er Jahren fand die Schweizer Wirtschaft qualifiziertes Personal, obwohl es damals Kontingente gab."

Die Bilateralen Abkommen von 1999

1999 ausgehandelt und 2002 in Kraft getreten, gilt für sieben Abkommen, dass alle hinfällig sind, wenn ein einziges gekündigt wird.



Personenfreizügigkeit: Schweizer und EU-Bürger können sich gleichberechtigt in den Vertragsstaaten niederlassen beziehungsweise eine Arbeit aufnehmen.

Technische Handelshemmnisse: Ein Produkt muss nur noch bei einer einzigen Zertifizierungsstelle in der Schweiz oder in der EU zugelassen werden.

Öffentliches Beschaffungswesen: Die Ausschreibungspflicht wird auf Gemeinden und Bezirke ausgeweitet.

Landwirtschaft: Der Handel mit Agrarprodukten wird durch Zollabbau und Anerkennung der Vorschriften vereinfacht.

Landverkehr: Die Märkte für Straßen- und Schienentransport werden schrittweise geöffnet.

Luftverkehr: Das Abkommen gewährt Fluggesellschaften Zugangsrechte zu den gegenseitigen Luftverkehrsmärkten.

Forschung: Schweizer Forscher und Unternehmen können sich an den EU-Forschungsrahmenprogrammen beteiligen.