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Olgas Verlobter und Anyas Bruder sind Soldaten im Asow-Stahlwerk in Mariupol. Die Einheiten dort stehen in der Abwehr der russischen Invasoren mit dem Rücken zur Wand.
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Mit dem Mut kommt das Glück", schreibt Misterfrostovik auf seinem Instagram-Account. Hinter Mister Frostovik verbirgt sich Nikolai - aber alle nennen ihn Kolyja. Nikolai ist einer jener Soldaten, die im Asow-Stahlwerk eingekesselt sind. In diesem Stahlwerk haben sich die letzten ukrainischen Verteidiger von Mariupol verschanzt und leisten dort erbitterten Widerstand. Auf Nikolais Twitter-Account finden sich aber immer noch ab und zu neue Videos und Textnachrichten - dank des Satelliten-Netzwerks Starlink haben die Kämpfer des Asow-Regiments - zumindest sporadischen - Internet-Zugang. Und so bekommt auch Nikolais Verlobte Olga Malyuchenko manchmal ein Lebenszeichen.
Im Stahlwerk droht der Endkampf von Mariupol. Seit dem Wochenende sind jene Zivilisten aus Mariupol, die ebenfalls in den Bunkern und unterirdischen Werkshallen Schutz gesucht hatten, in Sicherheit, sie konnten über einen humanitären Korridor das Gelände verlassen. Die Überlebenden berichteten der US-Nachrichtenagentur Associated Press (AP) von ständigem Beschuss und schwindenden Lebensmittelreserven.
Die 69 Jahre alte Ljubow Andropowa, die seit 10. März im Asow-Stahlwerk ausgeharrt hatte, erzählte davon, dass unter dem unablässigen Beschuss die Furcht geherrscht habe, dass der Bunker einstürzen werde. "Alles bebte, wir sind nicht rausgegangen." Nun, da alle Zivilisten das umkämpfte Stahlwerk verlassen haben, würden es die russischen Streitkräfte zu stürmen versuchen, heißt es seitens des ukrainischen Verteidigungsministeriums. Panzer und Artillerie seien bereits im Einsatz, so Ministeriumssprecher Olexsandr Motusjanyk. Zuletzt hat Russland freilich dementiert, dass die Erstürmung bereits im Gang sei. Den Angehörigen der Soldaten ist aber klar: Ihnen bleibt nicht mehr viel Zeit. Und sie haben nur ein Mittel: Aufmerksamkeit.
Rosa Shirt und Theaterblut
Nur wenn es ihnen gelingt, eine Evakuierung ihrer Brüder, Neffen, Väter, Ehemänner, Verlobten oder Partner durchzusetzen, haben sie eine Chance. Davon ist Olga überzeugt. Olga ist 23 Jahre alt, sie ist Model, und das sieht man bei den Demonstrationen, wenn sie sich in Szene zu setzen und die Aufmerksamkeit der Fotografen und Kameraleute auf sich zu ziehen weiß. Über dem weißen Leibchen trägt sie ein zartrosa Top aus Spitze, die mit Theaterblut verschmierten Arme reckt sie zur dramatischen Pose empor, auf dem Kopf einen Moosbeerenkranz.

Sie hat ein Schild gemalt: "Mariupol: Evakuierung von Zivilisten und Soldaten!" Engelsflügel machen das Kostüm komplett. "Am Anfang war es mir unangenehm, mich auf den Demonstrationen derart zu inszenieren. Aber ich würde noch mehr tun, wenn es hilft, Kolya zu retten", sagt sie. Nikolai und seine Leute hätten nicht mehr viel Wasser, Lebensmittel seien ebenfalls knapp. "Die Soldaten träumen von einem Stück Brot oder Porridge", erzählt Olga. "Wir wissen, unsere Soldaten sind aus Stahl, aber sie sind auch Menschen. Viele brauchen sofortige medizinische Hilfe."
Von den 2.000 Soldaten sollen rund 700 bereits mehr oder weniger schwer verletzt sein. Nur ein paar Tage vor dem Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine waren die beiden - Olga und Nikolai - noch in Mariupol spazieren, und er zeigte ihr Einschusslöcher in einem Gebäude, die von der russischen Invasion vom Jahr 2014 stammten. "Heute hat fast jedes Haus in Mariupol Einschusslöcher oder ist überhaupt völlig zerstört", berichtet Olga.
Kennengelernt haben die beiden einander via Instagram, "er hat zu mir gesagt, dass meine Augen ihn an das Asowsche Meer erinnern", sagt sie. Das Asowsche Meer . . . - das klang interessant in ihren Ohren, weit weg, fast exotisch, denn Olga ist in Kiew aufgewachsen, rund 700 Kilometer vom Asowschen Meer entfernt. Nikolai kam Olga in Kiew besuchen, und als er wieder wegfuhr, schickte sie ihm eine Box, in die sie ein Büchlein, in das sie ihre Gedanken und Gefühle notiert hatte, ein kleines Kissen und eine Stoffmaus gesteckt hatte. Dann ging alles recht schnell: Vorstellung bei den Eltern, gemeinsame Ausflüge in den Karpaten. Die beiden freuten sich auf die gemeinsame Zukunft.
Doch seit dem 24. Februar, dem Tag, an dem die russische Invasion begann, ist alles anders. "Kolya kann nicht kommunizieren, also werde ich zu seiner Stimme", sagt Olga. "Ich stehe mit den anderen jungen Frauen, deren Männer im Asow-Stahlwerk kämpfen. Von der ukrainischen Regierung brauchen wir mehr als nur Worte. Wir brauchen Taten. Viele der Freunde meines Verlobten sind bereits tot. Ich will nicht, dass noch mehr sterben."
Rechtsextreme Codes
Zuletzt war Olga unter jenen Demonstranten, die vom Maidan zum Amtssitz von Präsident Wolodymyr Selenskyj gezogen sind, um dort mehr Unterstützung für die Asow-Kämpfer und vor allem einen Fluchtkorridor zu fordern. Zuletzt haben sogar zwei Kommandeure der Asow-Einheit in einer Zoom-Pressekonferenz aus dem unter Bombardement stehenden Stahlwerk die Regierung in Kiew dafür kritisiert, bei den Verteidigungsvorbereitungen von Mariupol versagt zu haben und nun nicht mehr zu ihrer Rettung zu unternehmen.
Die Kämpfer im Stahlwerk rechnen damit, dass die russischen Invasoren dort keine Gefangenen machen werden. Denn das Asow-Regiment ist ein zentraler Teil des russischen Narrativs von Nazis, von denen die Ukraine befreit werden müsse. Tatsächlich war die Miliz nach ihrer Gründung höchst umstritten, da sich die Führungskader aus der rechtsextremen Szene rekrutiert hatten - die Regierung verschmolz daraufhin das Regiment mit regulären Einheiten der ukrainischen Armee, um ihren Einfluss zu verwässern. Aber tatsächlich finden sich auf relativ aktuellen Fotos von Asow-Soldaten rechtsextreme visuelle Codes.
Olga kann freilich die Kritik am Asow-Regiment nicht nachvollziehen: "Man will dieser Einheit ja nur ein schwarzes Label aufkleben. Aber diese Soldaten kämpfen für die Ukraine, ohne Leute wie sie gäbe es vielleicht unser Land nicht mehr." Dann zögert sie kurz, wechselt das Thema, erzählt davon, dass Nikolai und sie eigentlich im März heiraten und dann eine Honeymoon-Reise durch Italien unternehmen wollten. Und Olga wäre dann gleich von Rom nach Paris weitergereist, wo sie auf Modeschauen auf dem Laufsteg gemodelt hätte.
"Selbstbewusst und furchtlos"
Pläne ändern sich. Olgas Freundin Anya ist ruhig und hält sich eher im Hintergrund. Sie ist ganz anders als die extrovertierte Olga, die gerne im Rampenlicht seht. Anya bangt um ihren Bruder Alexander - Sasha -, der wie Nikolai ebenfalls im Asow-Werk kämpft. "Es geht nicht um Tage, sondern um Stunden und Minuten", sagt Anya.
Auch sie hat sich für die Demonstration rote Farbe ins Gesicht und auf die Arme gemalt. Anya hatte zuletzt vor ein paar Tagen Kontakt zu ihrem Bruder. Was er erzählt hat? Dass alles schon in Ordnung sei, sagt Anya. Aber es ist natürlich gar nichts in Ordnung. Sasha sage das nur, um seine Schwester, seinen Bruder und seine Mutter zu beruhigen, meint sie. Aber zumindest weiß sie, dass er nicht verwundet ist. "Wir haben immerhin diese Community auf unserem Telegram-Chat-Kanal, auf dem wir uns austauschen, es ist wie eine Selbsthilfegruppe", sagt Anya.
Ihre Mutter muss trotzdem Tabletten - Beruhigungsmittel - nehmen, um einschlafen zu können, und auch Anya sagt, dass sie sich leer, müde und verzweifelt fühlt. Wie kann man sich Sascha, ihren Bruder vorstellen? Ihr Gesicht hellt sich auf, ihre Sprache wird lebendig, der Gedanke an ihren Bruder bringt sogar den Anflug eines Lächelns in ihr müdes Gesicht. "Er wollte eigentlich Jurist werden", erzählt sie, "Advokat." 26 Jahre alt ist er, doch mit 22 Jahren hat er das Studium abgebrochen und ist zum Asow-Regiment gegangen. Vorher sei er eher schüchtern gewesen, "doch seit er die Unform trägt, ist er selbstbewusst und furchtlos".
Gerade als sie das sagt, beginnen in Kiew die Luftschutzsirenen zu heulen. Der Krieg ist überall, aber nirgends ist er so schlimm wie in Mariupol.
Mitarbeit: Olya Danyukova