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Trotz des Ukraine-Kriegs ist die Unterstützung für den Kreml groß. Warum? Eine essayistische Spurensuche.
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Angeblich hat der 24. Februar, jener Tag, als die russische Armee einen Frontalangriff auf die Ukraine startete, alles verändert. Die EU, vorher im Verhältnis zu Russland nur selten geschlossen, zeigte sich plötzlich einig wie nie. Sie verhängte scharfe Sanktionen, nahm Kriegsflüchtlinge auf, lieferte Waffen. Sogar Deutschland nahm von seinem Staatspazifismus Abstand. Die ukrainische Fahne ist seither allgegenwärtig, man bekommt den Eindruck, der Westen stünde dicht an dicht zusammen gegen die Kriegspolitik von Russlands Präsident Wladimir Putin.
Dass dieser Eindruck täuscht, wird bei einem nur flüchtigen Blick ins Internet offenbar. Die Regierungen mögen beschließen, was sie wollen, in der Bevölkerung regt sich Unmut. Im Kommentarbereich unter Artikeln über den Krieg zeigt sich, dass Putin hierzulande auch nach dem 24. Februar über eine beträchtliche Anhängerschaft verfügt. Die steigende Inflation, die drohenden Gas-Engpässe und die horrenden Preise lassen die Ukraine-Begeisterung sinken. Das geht so weit, dass von vielen nicht Putin, sondern der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj als Kriegstreiber angesehen wird, als jener Mann, der den Frieden verhindert. Wenn der ehemalige Schauspieler Selenskyj nicht gleich als Marionette beschrieben wird - als eine Puppe in der Hand des eigentlichen Masterminds des Krieges, US-Präsident Joe Biden.
Es sind nicht unbedingt Russen, die so reden oder schreiben. Von meinen in Wien lebenden russischen Bekannten - hier ist es einmal angebracht, offen von eigenen Erfahrungen zu sprechen - zeigten sich viele vom Kriegsausbruch schockiert. Die Neigung, das kleptokratische, mafiöse Putin-Regime zu romantisieren, in ihm - beispielsweise - einen zukunftsträchtigen konservativen Gegenpol zu einem dekadenten Europa zu sehen, ist bei ihnen oft deutlich schwächer ausgeprägt als bei manchen Österreichern oder Deutschen.
Woher aber kommt diese eigentümliche Hinneigung zu Putin und Russland, die gerade im deutschsprachigen Raum besonders groß ist? Sicher, am rechten Rand punktet Putin seit Jahren mit seiner Gegnerschaft zu ultraliberaler Genderpolitik, bei (Alt-)Linken mit Anti-Nato-Rhetorik.
Dennoch ist die Zustimmung für den russischen Präsidenten schwer erklärbar: Die immer noch lebendigen Traumata aus dem Zweiten Weltkrieg - die Vertreibungen, die Vergewaltigungen, die Kriegsgefangenschaften im Gulag - wirken ja nicht gerade werbend für ein enges Verhältnis zu Russland. Dazu folgte darauf ein langer Kalter Krieg, der alte Ängste vor der Gefahr aus dem Osten wachhielt. Die Bedrohung durch die Sowjetunion war immer präsent. Von den beiden Supermächten war die westliche, die USA, eindeutig die populärere: Sie bot Freiheit statt Kommunismus und legte mit dem Marshallplan den Grundstein für die Wohlstandsentwicklung der Nachkriegszeit. Dazu öffneten die USA auch ein Fenster zur Welt, prägten den Lebensstil ganzer Generationen. Die Popkultur war und ist eine englische, die Bindungen zur transatlantischen Supermacht sind kulturell sehr eng. Moskau hatte und hat dem "American way of life" nur wenig entgegenzusetzen.
Furcht und Faszination
Dennoch gab es vor allem in Deutschland immer auch eine sentimentale Neigung zu Russland. Das Riesenreich im Osten war fremd und geheimnisvoll genug, um die Fantasien zu beflügeln und ein Interesse zu wecken, das beispielsweise dem näheren Nachbarn Polen so nie galt. Schon dessen betonter Katholizismus löste im protestantischen Preußen Abwehr aus.
Russland hingegen eignete sich für das preußische Deutschland als Projektionsfläche - ganz ähnlich wie Deutschland für Russland. Der jeweils andere verkörperte das, was man an sich selbst vermisste: Hier der kantianische Vernunftstaat Preußen, gut organisiert und effizient, ein Vorbild. Dort das Gärende, Unbestimmte, Grenzen Überschreitende, vielleicht auch revolutionär-Mitreißende, auch die Innerlichkeit, die mystische "russische Seele", die wiederum dem "deutschen Wesen" einiges zu geben hatte. Einem Wesen wiederum, das man sich romantisch-rückwärtsgewandt dachte. An ihm sollte laut einem verbreiteten Schlagwort die Welt genesen.
Welche Welt? Wohl jene kahle, rationale, materialistische, sinnentleerte, technoide Welt des Westens, gegen deren Vorformen man in Deutschland schon in der Romantik rebellierte. Umgekehrt gab es immer auch den zivilisatorischen - teils auch rassistisch gefärbten - Überlegenheitsdünkel Russland gegenüber. Der Osteuropa-Historiker Gerd Koenen, der über den deutschen "Russland-Komplex" ein Buch geschrieben hat, spricht von einem "Gemisch aus Furcht und Faszination, aus empathischer Einvernahme und phobischer Abwehr", von "latenten Machtfantasien und Bündnisoptionen auf der Achse Berlin-Moskau", die zwar fast niemals voll umgesetzt werden konnten, aber dennoch die Köpfe beschäftigten.
Insbesondere ein Blick in die Zwischenkriegszeit zeigt, dass das Verhältnis des durch den Versailler Vertrag gekränkten Deutschlands zu der neu entstandenen, kommunistischen Großmacht im Osten keineswegs nur von Abwehr und Angst vor der "roten Flut" aus Asien bestimmt war - wie man nach dem Hitler’schen Vernichtungskrieg und dem Kalten Krieg meinen könnte. Selbst innerhalb der nationalistischen deutschen Rechten gab es - trotz aller Ablehnung des "Bolschewismus" - Anknüpfungspunkte für ein Zusammengehen mit Russland.
Hang zur Radikalität
Diese gab es schon allein deshalb, weil beide Pariastaaten Revanchegelüste gegen den Westen hegten: Der Vertrag von Rapallo, der vor 100 Jahren zwischen dem Weimarer Deutschland und der soeben gegründeten Sowjetunion geschlossen wurde, hatte neben der gegenseitigen Anerkennung auch eine strategisch-revisionistische Komponente. Eine geheime militärische Zusammenarbeit wurde vereinbart, die bis in den Herbst 1933 andauerte. Dabei näherte man sich rasch an: Bei abendlichen Manövergesprächen, schrieb Koenen jüngst in einem Beitrag, seien hohe Offiziere von Reichswehr und Roter Armee beispielsweise ganz einer Meinung gewesen, "dass Polen als Bollwerk der Versailler Mächte im östlichen Europa von der Landkarte gestrichen werden müsse, die auch sonst großflächig bereinigt werden müsse" - lange vor dem Hitler-Stalin-Pakt. Selbst bei den Nationalsozialisten gab es in den 1920er Jahren einen russophilen Flügel, dem neben der Tiefe der russischen Seele auch die brutale, unbürgerliche Radikalität der Bolschewiki imponierte. Der junge Joseph Goebbels, der anfangs von Hitlers Ostraumplänen abgestoßen war, gehörte ihm an.

Umgekehrt setzte man in Moskau stets auf Berlin: Träumte Wladimir Iljitsch Lenin noch von der Weltrevolution, für die er Deutschland als entscheidendes Land ansah - der sowjetische Revolutionsführer benutzte das Bild von Deutschland und Russland als "zwei Küken unter der Schale des Imperialismus", die diese gemeinsam durchbrechen sollten -, so ging es Stalin später darum, die alten zaristischen Reichsgebiete im Verband mit Deutschland wieder unter russische Kontrolle zu bringen. Was 1939 auch gelang.
Angst vor "Viertem Reich"
Die Leidtragenden dieser Politik waren jene Völker "Zwischeneuropas", die zwischen Moskau und Berlin ihre Existenz sichern mussten - etwa Polen oder die baltischen Staaten. Besonders bei der konservativ-nationalen polnischen Regierungspartei PiS löst jede Art von deutsch-russischer Kumpanei noch heute zuverlässig Ängste vor einem Revival des Hitler-Stalin-Paktes aus. Im Staatsfernsehen kommen Experten zu Wort, die behaupten, Deutschland wolle mit der EU ein "Viertes Reich" aufbauen. Dagegen zu argumentieren ist nicht immer leicht: Auch nach hingebungsvollen Debatten dürfte ich meine polnische Schwiegermutter noch nicht von der Harmlosigkeit des heutigen Deutschlands überzeugt haben. Berlin bleibt eben Berlin, und Russland ohnehin das "Reich des Bösen".
Kein Wunder, dass in Warschau die Stars & Stripes der US-Flagge heller leuchten als hierzulande. Anhängsel in einem deutsch dominierten Europa zu sein, ist zumindest für die PiS alles andere als verlockend - noch dazu angesichts scharfer ideologischer Gegensätze zur linksliberal dominierten Union. Man sieht sich mehr denn je als Bannerträger des Westens, der zivilisierten Welt im - wie man meint - unsicheren Osten Europas. Die Lust, diese Zivilisation und ihre Leistungen infrage zu stellen, wie sie im Westen im akademischen Milieu mittlerweile sehr ausgeprägt ist, ist gering. Schließlich wirkt die Zugehörigkeit zur westlichen Zivilisation im Grenzraum Osteuropas als zentraler Anker der eigenen Identität, die vom gefährlichen Nachbarn im Osten immer wieder bedroht wurde. Die Beziehungen zur westlichen Moderne und zur Vormacht USA sind unbelastet und freundschaftlich.
Anders in Moskau. Dort ist das Verhältnis zum Westen seit den Reformen Peters des Großen ein zutiefst gespaltenes: Der Westen, Rivale und Gegenstück, wirkte als Vorbild, als das Andere, dessen Niveau zu erreichen man sich bemühte - unter ungeheuren Entbehrungen und Opfern. Der Wunsch, auf der Fortschrittsachse selbst vorne zu liegen, wurde dabei nur selten befriedigt - etwa im Sputnik-Schock. Die westliche Moderne wirkte als Idealbild, blieb aber zugleich etwas Fremdes, Ungeliebtes, dem orthodoxen Russland von außen Aufgepfropftes. Immer gab es Widerstand, Renitenz dagegen. Auch heute baut Russland seine Identität in der Tradition des "Dritten Rom" als konservativer Gegenpol zum radikal-liberalen "Gayropa" auf.
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Widerstand gegen die westliche Moderne gab es aber auch hierzulande, und das nicht nur in der Romantik. Auch vor dem Ersten Weltkrieg schon raunte man von der tiefgründigen deutschen Seele und Kultur, die der platten, oberflächlichen, merkantilen, sterilen, materialistischen westlichen Zivilisation überlegen sei und der Welt Erlösung bringen könnte. Nach dem Krieg predigten Jugendbewegungen wie die Wandervögel ein Zurück zur Natur, entstanden anthroposophische Kreise, suchte man im "edlen Wilden" das naturnahe Gegenbild zur verdorbenen Zivilisation des Geldes. Von solchen Sehnsüchten war es nicht mehr weit zu antisemitischen Schlussfolgerungen. Tatsächlich finden sich in den 1920er Jahren selbst in einem so unverdächtigen wie brillanten Buch wie Egon Friedells "Kulturgeschichte der Neuzeit" nicht nur Vorstellungen, die öde materialistische westliche Zivilisation könne nur durch Deutschland oder Russland errettet werden, sondern auch judenfeindliche Anklänge. Und dies, obwohl Friedell selbst gewiss kein Antisemit und außerdem jüdischer Herkunft war - und nach dem "Anschluss" 1938 in Wien Selbstmord beging.
Skeptiker der modernen Welt
Juden wurden hierzulande meist als Bannerträger der Moderne wahrgenommen. Ihnen wurden Eigenschaften wie wendig, betriebsam und geschäftstüchtig zugeschrieben. Denn sie galten als besser angepasst an die vermeintlich harte, kapitalistische Welt der Moderne, war der Handel doch über Jahrhunderte einer der wenigen Sektoren, in denen sie tätig sein durften. In der Zwischenkriegszeit suchten alle politischen Lager nach Alternativen zum westlichen Liberalismus: Von Spenglers "preußischem Sozialismus" über die marxistische Variante bis zur nationalsozialistischen Volksgemeinschaft spannte sich eine breite Sehnsuchtspalette. Bürger und Arbeiter fühlten sich durch Konkurrenz bedroht, suchten Schutz vor der möglichen Vereinzelung im westlichen Liberalismus in der Gemeinschaft unter Gleichen.
Mittlerweile sind die meisten dieser Alternativentwürfe Geschichte. Dennoch ist das Bewegende dahinter hierzulande nicht vollends versickert. So könnte etwa das bei manchen erstaunlich rasch abrufbare Ressentiment gegen die USA ein Erbe der antimodernen und antiwestlichen Haltungen der Vergangenheit sein. Auch ist auffällig, dass Wissenschafts- und Modernitätsskepsis im deutschsprachigen Raum stets einen besonders guten Resonanzraum findet - ob es um die Gegnerschaft zur Atom- und Gentechnologie, um biologische Landwirtschaft, um Impfgegnerschaft oder alternative Heilpraktiken geht. Die - in viele Fällen wohl nicht unberechtigte - Sorge, dass eine aus dem Ruder geratene Technikentwicklung die verbliebene unberührte Natur zerstört und dem Menschen die Luft zum Atmen nimmt, ist weit verbreitet. Auch ist man hier freiheitsängstlicher als in Übersee, fürchtet allzu viel Marktwirtschaft.
Der deutsche Januskopf
Das heute betont moderne Deutschland war dabei stets ein janusköpfiges Land: Lange verschlafen und zurückgeblieben, eine "verspätete Nation", stürmte das Land nach der Einigung durch Preußen an die Spitze des technischen Fortschritts. Zugleich gab es aber auch stets eine ganze Riege von Kritikern dieser Entwicklung, und gerade die Technikkritik erreichte in Deutschland hohes Niveau. Die weit verbreitete Suche nach naturverbundenem Leben ließ manche auch nach Russland blicken, einem Land, das sich selbst stets als Alternative zum Westen ansah. Dass dort mit den Bolschewiki eine Gruppe an der Macht war, die die westliche Technikentwicklung auf die Spitze treiben wollte, musste nicht stören - irgendwo musste noch das alte Russland schlummern, das frei nach Dostojewski der Welt das erlösende Wort sprechen sollte.
Trotz aller deutscher Westbindung sind die Brücken nach Russland auch heute nicht ganz abgerissen - so gibt etwa innerhalb der Neuen Rechten eine starke Hinneigung zu Moskau. Umgekehrt bedient sich auch der umstrittene russische Eurasien-Ideologe Alexander Dugin ausgiebig bei Friedrich Nietzsche, Martin Heidegger und Denkern der deutschen "konservativen Revolution" der 1920er Jahre. Der Kitt, der diese Koalition zusammenhält, ist auch heute die Ablehnung der westlichen Moderne. Wie immer man diese Ablehnung auch bewerten mag - eines dürfte klar sein: Der Humus für antimoderne Haltungen ist hierzulande nach wie vor tief.