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"Die soziale Krise wird ihren Höhepunkt erst 2010 erreichen"

Von Stefan Janny

Reflexionen
Chalupka: "Die soziale Krise wird ihren Höhepunkt erst erreichen." Foto: Newald

Pflege-Legalisierung war "Mittelstandsförderung". | Spendenaufkommen bei Diakonie trotz Krise stabil. | "Wiener Zeitung": Manager und Unternehmer haben wegen der Krise ein besonders schwieriges Jahr hinter sich. Gilt für den Chef einer großen sozialen und karitativen Organisation Ähnliches? | Michael Chalupka: Auf jeden Fall hat die Krise unseren Klienten das Leben noch schwerer gemacht hat. Wenn Leute früher gekommen sind, um Hilfe bei der Finanzierung des Schulskikurses der Kinder zu erhalten, geht es nun um existenziellere Dinge: Heizen, Wohnen, Bedienung der Kredite.


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Und obwohl die Krise vermutlich irgendwann Mitte 2010 überwunden sein wird, wird genau dann der Höhepunkt der sozialen Krise zu verzeichnen sein, weil die Arbeitslosigkeit steigen wird viele Menschen dann bereits länger arbeitslos sein werden.

Aber eigentlich sollten die staatlichen sozialen Netze diese Probleme doch weitgehend auffangen.

Das wird leider nicht gelingen, weil die öffentlichen Budgets leer sind. Wir stellen in Gesprächen mit den Bundesländern fest, dass Projekte, deren Finanzierung schon akkordiert war, auf Eis gelegt werden, weil die Landesräte wissen, dass ihre Budgets nächstes Jahr absolut desaströs sein werden. Das wird sich massiv auf soziale Unternehmen auswirken und damit auf die Menschen, für die wir arbeiten. Die soziale Krise wird ihren Höhepunkt erst erreichen. In profitorientierten Unternehmen hat man die Krise viel schneller gespürt, bei sozialen Unternehmen gibt es eine gewisse Verschiebung, weil die öffentlichen Hände, die unsere Leistungen und Projekte finanzieren, langsamer reagieren als der Markt.

Befürchten Sie nur die Verzögerung neuer Projekte oder rechnen Sie auch mit Kürzungen bei bestehenden Sozialleistungen?

Wir haben es zum Teil schon erlebt. Heuer sind Ermessensausgaben der Bundeshaushalte um zehn Prozent gekürzt worden. Das Wort Ermessensausgaben klingt harmlos, aber davon sind viele wichtige kleinere Sozialprojekte betroffen, die noch keine Leistungsverträge haben, sondern über Subventionen finanziert werden. Und es gibt auch schleichende Kürzungen, wie wir sie über viele Jahre etwa beim Pflegegeld erlebt haben, wo die Inflation nicht abgegolten wurde.

Allerdings ist die Inflation derzeit besonders niedrig und wird vermutlich noch längere Zeit niedrig bleiben.

Das mag schon sein. Aber vor allem kommt es darauf an, ob es eine gesellschaftliche Übereinkunft gibt oder nicht. Ob man gerade dort, wo es die Leute besonders brauchen, kürzt oder nicht. Ich vermisse in Zusammenhang mit den Konjunkturpaketen eine Debatte darüber, dass man auch den Sektor der sozialen Dienstleistungen als Wirtschaftsmotor einsetzen könnte. Man hat bei den Konjunkturprogrammen vielfach noch sehr altmodisch und in den Kategorien alter Industrien gedacht. Dabei ist der Sozial- und Gesundheitsbereich mit 13.000 zusätzlichen Jobs der einzige, in dem dieses Jahr Arbeitsplätze geschaffen wurden.

Den enormen Bedarf an zusätzlichen Pflegeleistungen und die Tatsache, dass dort gerade jetzt Jobs geschaffen werden können, hat zuletzt sogar auch Bundeskanzler Werner Faymann anerkannt, als er einen Generationenfonds vorgeschlagen hat. Da wurde auch eine Summe genannt und gesagt, wie viele Jobs man damit schaffen kann.

Allerdings ist die Finanzierung dieses Generationenfonds über die Spitalsreform und eine Transaktionssteuer noch eher fraglich.

Es ist sicher so, dass es lange dauern wird, bis die von ihm genannten Finanzquellen fließen. Andererseits gibt es enorme Widerstände. Bedenken haben wir bei der Forderung, Geldleistungen zu Sachleistungen im Pflegebereich umzuwandeln. Das Pflegegeld in Sachleistungen umzuwandeln, halten wir nicht für den richtigen Weg, weil das Pflegegeld ein Erfolgsmodell ist und viel Autonomie ermöglicht.

Kritisch könnte man anmerken, dass das Pflegegeld in Wahrheit eine staatliche Subvention von Schwarzarbeit ist.

Man kann zum Pflegegeld einige kritische Anmerkungen machen. Es wird beispielsweise kritisiert, dass Pflegegeld gar nicht für Pflege verwendet würde. Unsere Erfahrungen und unabhängige Studien zeigen das allerdings nicht.

Aber viele osteuropäische Pflegerinnen arbeiten hier unter rechtlich fragwürdigen Rahmenbedingungen.

Da hat es ja jetzt eine Legalisierungsmöglichkeit gegeben, die sich die Regierung als Erfolg auf die Fahnen schreibt. Wobei hier bloß ein Problem für eine relativ kleine Menschengruppe gelöst wurde, die sich das auch leisten kann.

Sie meinen, davon profitieren nur recht wohlhabende Familien?

Das ist ganz klar eine Mittelstandsförderung, denn man braucht zumindest 1500 Euro netto und eine Wohnmöglichkeit für diese Pflegerinnen. Diese Voraussetzungen haben nicht viele. Daher brauchen wir eine große Strukturreform im Pflegebereich, eine Diversifizierung des Angebots, flächendeckende Tagesstrukturen für ältere, pflegebedürftige Menschen.

So eine Tagesstruktur ist günstiger als ein Pflegeheim, aber wenn sie nicht angeboten wird, muss man sich entweder eine Pflegerin ins Haus holen oder, wenn man sich das nicht leisten kann, die Eltern ins Pflegeheim geben, obwohl sie noch gar keine 24-Stunden-Pflege brauchen.

Sie fordern analog zum Gratiskindergarten einen Gratis altenhort?

Ich würde das nicht so formulieren. Neben den beiden Lebensrisiken Krankheit und Arbeitslosigkeit, die von Kranken- und Arbeitslosenversicherung abgedeckt werden, gibt es ein aufgrund der demografischen Entwicklung stark zunehmendes drittes Risiko, nämlich pflegebedürftig zu werden. Dieses muss genauso solidarisch abgesichert werden wie die anderen. Jetzt muss selbst bei Menschen, die sich ihr Leben lang dem Mittelstand zugehörig gefühlt haben, oft die Sozialhilfe einspringen, die nie den Zweck hatte, langfristige Pflege zu finanzieren. Das muss über ein anderes Instrument geschehen und wäre über den von uns vorgeschlagenen Pflegefonds sinnvoller.

Ab welchem Einkommen gehört man zum Mittelstand?

Wenn man Politiker reden hört, hat man den Eindruck, dass man erst ab einem Monatseinkommen von 6000 oder 7000 Euro, was etwa den Abgeordneteneinkommen entspricht, zum Mittelstand gehört. Tatsächlich beträgt das mittlere Einkommen in Österreich rund 2000 Euro brutto. Für mich ist der Mittelstand dort, wo die mittleren Einkommen sind. Das heißt, wir reden von Einkommen, die keine großen Sprünge erlauben.

Ist die ÖVP-Forderung nach einem Transferkontos aus Sicht einer Organisation wie der Diakonie zynisch, oder können Sie dieser Idee positive Aspekte abgewinnen?

Es ist nicht nur zynisch, aber der Vorschlag hat einen bestimmten Zweck verfolgt: nämlich, die Debatte über Vermögenssteuern, über die Verteilung zwischen wirklich Reich und Arm auf einen Diskurs über die Verteilung zwischen besser situiertem und unterem Mittelstand zu verlagern. Der andere Aspekt ist, dass man sich mit dem Transferkonto die Verwaltungsreform nicht ersparen wird. Es ist erstaunlich, dass das Finanzministerium nach einem Transferkonto ruft, obwohl es eigentlich den besten Überblick über sämtliche Leistungen haben sollte.

Stört es Sie, dass Organisationen wie Diakonie oder Caritas im politischen Spektrum eher links der Mitte eingeordnet werden?

Wenn ich unseren politischen Standort definieren müsste, dann stehen wir dort, wo Menschen soziale Probleme haben - ob das links oder in der Mitte oder rechts ist, weiß ich nicht.

Von Reichen mehr Geld zu fordern, um es den Armen oder Ärmeren geben zu können .. .

... ist eine Grundhaltung, die dem Christentum seit 2000 Jahren innewohnt.

... und normalerweise eher dem linken als dem rechten politischen Spektrum zugeordnet wird.

Da würde ich es mit Kardinal König halten: Wie sich die politischen Parteien zur Grundbotschaft des Evangeliums verhalten, ist ihre Sache und nicht unsere. Bei den 6000 Mitarbeitern der Diakonie gibt es wahrscheinlich sehr viele unterschiedliche politische Haltungen. Wichtig ist uns, Unabhängigkeit gegenüber allen politischen Parteien zu bewahren.

Wie hat sich das Spendenaufkommen 2009 entwickelt?

Aufgrund der Krise haben wir Einbrüche erwartet, andererseits haben wir uns aufgrund der Spendenabsetzbarkeit einen positiven Effekt erhofft. Tatsächlich sind die Spenden ziemlich gleich geblieben. Man muss vorsichtig sein, das Ergebnis zu interpretieren, aber vielleicht hat der eine Effekt den anderen aufgefangen. Ich bin froh, dass wir so treue Spender haben, die die Qualität unserer Arbeit schätzen. Sehr zurückhaltend mit Spenden und Sponsoring sind derzeit die Unternehmen, wobei es auch Ausnahmen gibt.

Wie viel Prozent der Gesamteinnahmen erwirtschaftet die Diakonie über Spenden?

Insgesamt an die fünf Prozent. Im Flüchtlingsbereich sind es über 30 Prozent, und im Bereich der Auslandshilfe und der Entwicklungszusammenarbeit sind es mehr als die Hälfte.

Wenn jemand zu Weihnachten ein konkretes Sozialprojekt mit einer Spende unterstützen möchte, wem soll er sein Geld zukommen lassen?

Er sollte sich genau anschauen, was für ihn selber passt, ob es präzise Abrechnungen gibt und ob die Organisation ein Spenden-Gütesiegel hat.

Zur PersonMichael Chalupka wurde 1960 in Graz geboren und studierte in Wien sowie Zürich evangelische Theologie. Danach absolvierte er eine Managementausbildung für Non-Profit-Organisationen.

Nach einem zweijährigen Studienaufenthalt am Centro Ecumenico d´Agape im Piemont als evangelischer Pfarrer war er drei Jahre als Leiter des Schulamtes der Evangelischen Superintendenz Steiermark tätig.

1994 wurde Chalupka erstmals zum Direktor der Diakonie Österreich, dem Sozialwerk der evangelischen Kirchen in Österreich, gewählt und befindet sich mittlerweile in dieser Funktion in seiner dritten Amtsperiode.