Die Wahllokale haben in der Türkei geschlossen, die Auszählung der Stimmen hat begonnen.
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Istanbul. Die drei Wahllokale in der berühmten Atatürk-Bibliothek nahe dem zentralen Taksim-Platz haben wohl den besten Ausblick aller Stimmbezirke in Istanbul, auf den Bosporus, über den am Sonntagmorgen dunkle Sturmwolken ziehen. Ein politischer Sturm tobt bereits in der Türkei, und bei der zweiten Parlamentswahl innerhalb von fünf Monaten soll das Volk nun dafür sorgen, dass der Wind etwas abflaut. Terroranschläge, der wieder aufgeflammte Krieg mit der Kurdenguerilla PKK, die politische Polarisierung der Bürger und eine beispiellose Einschränkung demokratischer Freiheiten sorgen für die tiefste Krise des Landes seit mehr als einem Jahrzehnt.
Der Architekt Cem Tüzün, Mitglied der sozialdemokratischen CHP, hilft dabei, alle Wahlhelfer und –beobachter seiner Partei im historischen Innenstadtbezirk Beyoglu mit Essenspaketen zu versorgen. Es ist acht Uhr morgens, in der Atatürk-Bibliothek hat Tüzün den Mitarbeitern seiner Partei gerade ein Frühstück vorbeigebracht. Als sie die Türen der Bibliothek öffnen, stellen sich sofort Dutzende Wähler an, um ihre Stimme abzugeben.
"Die Leute wissen, worum es diesmal geht "
Die Bibliothek liegt in einem bürgerlichen Wohngebiet, in dem die CHP im Juni fast 50 Prozent der Stimmen gewann. "Wir erwarten hier keine größeren Probleme", sagt die junge Ärztin Pelin Taskiran, die für die CHP den Wahlvorgang kontrolliert. "Die Leute wissen, worum es diesmal geht und wie wichtig die Wahl ist."
Die seit 13 Jahren regierende islamisch-konservative Regierungspartei AKP verfehlte am 7. Juni erstmals die absolute Mehrheit, verlor neun Prozent der Stimmen und rutschte auf 40,9 Prozent der Stimmen ab. Ministerpräsident Ahmet Davutoglu gelang es nicht, eine Koalition mit der CHP oder der nationalistischen MHP zu schmieden. Doch es war vor allem der Widerstand des übermächtigen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan, an dem die Bildung einer Koalitionsregierung scheiterte. Erdogan setzte Neuwahlen an, um den "Fehler" vom Juni "zu korrigieren".
Ungleichgewicht der Sendezeit im staatlichen Fernsehen
Aktuelle Meinungsumfragen deuten jedoch darauf hin, dass das Ergebnis wieder ähnlich ausfallen wird – falls die Wahlen einigermaßen sauber verlaufen. Zweifel daran geweckt hatten der massive Einsatz öffentlicher Mittel für die Wahlwerbung der AKP, ein nie gesehenes Ungleichgewicht der Sendezeit im staatlichen Fernsehen zugunsten der AKP und die beispiellose Zwangsenteignung oppositioneller TV-Sender kurz vor der Wahl. Der bekannte Whistleblower Fuat Avni aus dem Umfeld der Regierung warnte vor geplanten Wahlfälschungen.
Um dem zu begegnen, haben Oppositionsparteien und zivilgesellschaftliche Gruppen tausende freiwilliger Wahlbeobachter mobilisiert. Auch in der Atatürk-Bibliothek passen junge Leute der Initiative Oy ve Ötesi (Wahl und mehr) auf die Urnen auf. Die Initiative hatte im Juni erheblichen Anteil daran, dass nur kleinere Regelverstöße gemeldet wurden. Sie hat die Zahl ihrer Mitarbeiter am Sonntag noch einmal erheblich auf rund 65.000 Leute im ganzen Land erhöhen können. Ihre Helfer senden die Auszählungsergebnisse im ganzen Land an ihre eigene Computerzentrale, um sie mit den offiziellen Zahlen zu vergleichen. Ähnliche Systeme haben inzwischen auch die Oppositionsparteien installiert. Mächtige AKP-nahe Zeitungen griffen die strikt neutrale Gruppe Oy ve Ötesi in den vergangenen Tagen gleichwohl heftig an. "Wir wurden als Terroristen bezeichnet, weil die AKP Angst vor uns hat und ihre Macht nicht verlieren will", sagt ein junger Mann aus der Gruppe.
"Für eine saubere Wahl"
Die 45-jährige AKP-Vertreterin in der Atatürk-Bibliothek, Asya Ece, eine IT-Spezialistin, distanziert sich von solchen Vorwürfen und verurteilt zugleich jeden Versuch einer Wahlmanipulation. "Wir stehen für eine saubere Wahl. In diesem Wahllokal versuchen die Vertreter aller Parteien, gut zusammenzuarbeiten." Sie ist mit dem CHP-Mann Tüzün gut befreundet und sagt, die schädliche Polarisierung der Gesellschaft müsse dringend überwunden werden. Deshalb hofft Aysa Ece auf eine absolute Mehrheit der AKP, weil dies Ruhe in die Gesellschaft bringe. Aber eine Superpräsidentschaft Erdogans wünscht sie sich auch nicht, und das Vorgehen der Regierung gegen kritische Medien findet sie falsch.
Cem Tüzün drängt zum Aufbruch, denn er muss jetzt Lunchpakete mit Kebap abholen und zu den Wahlstellen in Beyoglu fahren, die allesamt in Schulen untergebracht sind. Sechs Schulen fährt er bis zum frühen Nachmittag an, und überall erzählen die Wahlhelfer, dass es bislang keine gravierenden Probleme gebe. Die Wahlbeteiligung sei hoch. Allerdings sieht man deutlich mehr Polizei in den Wahllokalen als beim letzten Mal. "Die Spannung ist überall zu spüren", sagt der 25-jährige Textilarbeiter Mehmet Nesim Dal, der die prokurdische HDP in einem Wahllokal mit überwiegend konservativen Wählern vertritt, in dem die AKP regelmäßig mehr als 50 Prozent der Stimmen holte.
Journalisten werden nicht freundlich begrüßt
Hier werden Journalisten nicht freundlich begrüßt, und die Bürgerinitiative Oy ve Ötesi muss incognito arbeiten. Der hiesige Muhtar Kadir Güven, eine Art gewählter Kiezvorsteher, der für die AKP stimmte, ist von ihrem Wahlsieg überzeugt. Aber er sagt auch: "Wenn es wieder wie beim letzten Mal ausgeht, muss es diesmal eine Koalitionsregierung geben." Diese Meinung teilen alle Wähler in Beyoglu, die wir befragen. Und fast alle glauben, dass der Präsident das Votum wieder nicht akzeptieren und noch einmal Neuwahlen ausrufen werde. "Ich habe alle Hoffnung verloren", sagt die 30-jährige Werbetexterin Merve, die wie im Juni die linke HDP gewählt hat und Erdogan als einen Diktator bezeichnet. "Ich habe für Demokratie, Frieden und Menschenrechte gestimmt, aber ich glaube nicht, dass unsere Stimmen etwas bewirken. Die AKP hat den demokratischen Prozess bereits gestoppt. Ich glaube, dass dies die letzte freie Wahl in der Türkei gewesen ist."
Als die Wahllokale um 17.00 Uhr schließen, ist Cem Tüzün wieder in die Atatürk-Bibliothek zurückgekehrt. Die Auszählung der Stimmen beginnt. Das erste Ergebnis liegt wenig später vor. Die Beteiligung in den drei Walllokalen ist um fast fünf Prozent gestiegen.