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"Die SPÖ rennt der FPÖ hinterher"

Von Walter Hämmerle

Politik
Ulrich Brand rät der SPÖ zur Öffnung, fertige Rezepte kann aber auch er Faymann & Co nicht bieten. Foto: Newald

Brand: Die SPÖ hat keine Antworten auf die neuen Probleme. | "Zwang kann mitunter sinnvoll sein." | "Der Nationalstaat ist nicht weg." | "Wiener Zeitung": Die Sozialdemokratie befindet sich in der Krise, in Österreich verliert sie seit Regierungseintritt 2006 Wahlen. Wieso?


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Ulrich Brand: Die Sozialdemokratie hat keine Antworten auf die postfordistische Krise, die Globalisierung, gefunden. Sie setzt nach wie vor auf eine homogene Arbeiterschaft, die jedoch längst in Auflösung begriffen ist. Und wenn sie Antworten gefunden hat, dann in Form einer Markt-Sozialdemokratie in den 90ern, die im Kern in einer Anpassung an Marktmechanismen bis in den Sozialstaat hinein bestand. Damals entstand der Mythos der Neuen Mitte, doch die großen Zukunftsfragen wie ökologische Krise, Migration oder Frauenerwerbsarbeit wurden ignoriert.

Sie setzen auf "progressive Kräfte", um die Sozialdemokratie zu erneuern. Wer sind diese Kräfte?

In Partei und Gewerkschaft all jene, die auf die veränderten Arbeitsverhältnisse - wie Prekarisierung und Flexibilisierung - eingehen. Dazu zählen auch ökologische und globalisierungsbewegte Gruppen; und natürlich alle, die sagen, wir müssen am Anspruch einer demokratischen sozialen Bewegung festhalten. In der SPÖ, so vermute ich jedenfalls, sind diese Kräfte aber noch relativ schwach.

Die Sozialdemokratie soll also quasi zu Attac werden?

Nein, das wäre zu eng. Aber sie muss ernst nehmen, wo in der Gesellschaft Probleme artikuliert werden - hier kommt Attac herein, aber auch Greenpeace und Teile der Gewerkschaften. Die Sozialdemokratie agiert in dieser Krise zu strukturkonservativ, das hängt natürlich mit den Machtbastionen der traditionellen Gewerkschaften zusammen. Für die Zukunft geht es darum, wie sich die Sozialdemokratie für neue Ansätze öffnen kann.

Müsste sich dazu nicht die Sozialdemokratie zuerst von der traditionellen Gewerkschaft emanzipieren?

Nein, aber die Gewerkschaften müssten erkennen, dass es neue Probleme in der Arbeitswelt gibt, die organisiert werden müssen. Und es gibt die Realität der Migration - all das muss inhaltlich und programmatisch erarbeitet werden.

Die Sozialdemokratie entstand, indem sich das Proletariat selbst politisierte. Heute ist sie mit einer weitgehend apathisierten neuen Unterschicht konfrontiert, die - dank Wohlfahrtsstaat von Existenzsorgen befreit - gar nicht daran denkt, sich politisieren und mobilisieren zu lassen. Dabei ist das doch die neue Kernklientel der Sozialdemokratie.

Die Sozialdemokratie muss wieder Richtungsforderungen entwickeln, um Alternativen anbieten zu können. Gelingt dies, das zeigte Barack Obamas Wahlkampf, lassen sich die Menschen mobilisieren.

Aber auch Obama wurde nicht von der Unterschicht gewählt, sondern sein Erfolg beruhte auf einer beispiellos erfolgreichen Mobilisierungskampagne der Mittelschicht mithilfe der neuen Medien.

Mag sein, auf jeden Fall muss die Sozialdemokratie weg von ihrer Idee, dass nur die Partei und ihre Funktionäre für eine progressive Politik zuständig sind. Es geht um die Mobilisierung der gesamten Gesellschaft, nicht nur als PR-Gag, wie es vielleicht bei Obama der Fall war. Man muss dieses in Österreich ganz besonders enge Politikverständnis aufbrechen. Aber wie das funktionieren könnte, darauf habe ich selbst leider keine Antwort.

Auf der Suche danach haben die Sozialdemokraten in Rotterdam beschlossen, Sozialhilfe nur dann auszuzahlen, wenn auch gearbeitet wird - notfalls eben im Dienste der Allgemeinheit.

Hier liegt die Gefahr in einem gewissen repressiven Paternalismus, das würde ich für problematisch erachten. Wenn es jedoch um eine offene Debatte geht, wie gesellschaftliche Teilhabe auch über Beschäftigungsarbeit abgesichert werden kann, dann bin ich dafür.

Der paternalistische Aspekt des Zwangs lässt sich aber nicht wegdiskutieren.

Wenn es in einem offenen Diskussionsprozess über soziale Absicherung geschieht, dann halte ich das für akzeptabel und sinnvoll.

Wie soll die Sozialdemokratie auf die Angst all jener reagieren, die durch Migration ihre Identität bedroht sehen - zumal hier die FPÖ sehr erfolgreich in SPÖ-Gefilden wildert?

Zunächst geht es darum, Deutungskämpfe in der Öffentlichkeit auch anzunehmen, bisher rennt die SPÖ der FPÖ hier eher hinterher. Es geht darum, deutlich zu machen, dass Sicherheit untrennbar mit sozialer Sicherheit verbunden ist - dann braucht es auch keine Sündenböcke mehr.

Könnte die Krise der Sozialdemokratie nicht auch damit zusammenhängen, dass das liberale Modell der letzten Jahrzehnte erfolgreich war?

Ich bestreite gar nicht, dass es enorme Modernisierungsgewinne gab, die technologische Innovationen und globale Arbeitsteilung, die ja nicht nur negativ ist, beförderten. Aber Aufgabe der Wissenschaft ist es, auch Ambivalenzen herauszuarbeiten und nach deren Preis zu fragen. Und: Es gibt eine soziale und ökologische Dimension der Krise, die uns schlicht nicht weitermachen lässt wie bisher.

Welche Rolle wird der Nationalstaat spielen?

Ich warne davor, dass man zu schnell sagt, der Nationalstaat ist weg. Dessen Potenzial gerade in Krisen wird unterschätzt - wo kommt denn jetzt das Geld her? Von den Staaten.

Ulrich Brand, geboren 1967 in Deutschland, ist seit 2007 Professor für Internationale Politik an der Universität Wien. Am Freitag referierte er im Kreisky Forum über "sozialdemokratische Politik in Zeiten der multiplen Krise".