Verhaltensauffällige Babys sind ein Spezifikum unserer Zeit - und sie werden mehr. Die Lösung liegt im Verstehen.
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Babys sind spürende Wesen. Sie nehmen ihre Umwelt von Anbeginn an wahr. Sie interagieren und reagieren. Das scheint logisch und dennoch sind Eltern von der Intensität der geäußerten Reaktionen immer wieder überrascht. Und nicht nur das - Eltern zu sein, ist eine Herausforderung, der man in der heutigen Zeit immer häufiger kaum noch gewachsen zu sein scheint. Schreibabys bringen nicht nur die eigenen vier Wände zum Bersten, sondern auch die Geduld der Eltern. Hyperaktivität und Schlafstörungen kosten einen auch noch die letzten Stunden der möglichen Regenerationsphase eines langen Tages. Der Ausblick ist kein guter: Denn die auffälligen Kinder scheinen mehr zu werden.
Druck, es richtig zu machen
Doch wie kommt es überhaupt zu dieser Entwicklung? Einerseits passe das Bild "sehr gut zur Gesamtgesellschaftsentwicklung, die alles andere als kinderfreundlich ist", erklärt die Psychotherapeutin und Leiterin der Arge Erziehungsberatung, Martina Leibovici-Mühlberger im Gespräch mit der "Wiener Zeitung". Hoch aufgeladen mit zahlreichen Stressoren, würden die Eltern unter Druck gesetzt, es mit ihrem Kind richtig zu machen. Das Ergebnis sind verunsicherte Erwachsene, "die sich auf den wesentlichen Prozess, nämlich ihr Kind kennenzulernen und Experte für ihr Kind zu werden, nicht mehr ausreichend einlassen können".
Es kommt zu einer Dissonanz in dieser frühen Beziehung, die im Nachwuchs selbst ein Defizit an Geborgenheit verursacht. Die Symptome erleben die Eltern in ihren vier Wänden - und nicht nur dort.
Diese Verunsicherung hat sich erst in den letzten Jahrzehnten verstärkt, betont die Expertin. Denn für die heute stattfindenden Veränderungen oder Neuerungen lässt sich nicht auf alte Handlungsmodelle zurückgreifen. Frühere Generationen waren mit großer Sicherheit davon ausgegangen, dass sie Elternschaft beherrschen. Sie haben es im großen Familienverband gelernt und auch selbst erfahren.
In einer Welt hingegen, in der sich Familien regional zerstreuen, die Familienbande weniger eng geknüpft ist und viele Paare auf sich alleine gestellt sind, ist es schwieriger geworden, sich Elternschaft von den Vorgenerationen abzuschauen. Erziehungsberater können hier wertvolle Arbeit leisten, so Leibovici-Mühlberger. Deren Aufgabe sei es, "den Eltern das Kind lesbar zu machen". Mütter und Väter müssen nämlich die Sprache ihrer Kinder lernen - aber auch umgekehrt.
Ursache Geburtstrauma
Auf der anderen Seite kann ein Geburtstrauma die Ursache für solch unerwünschte Symptome sein. Heute wisse man, dass es sich bei einem Säugling um einen spürenden, wahrnehmenden Organismus handelt, dem die Eindrücke einer schwierigen Geburt nicht verborgen bleiben. Bei Traumen wie Querlage, Notkaiserschnitt oder Nabelschnurumschlingung geht es für das Kind um Leben oder Tod. Das Vertrauen ins Leben werde durch ein solches Ereignis massiv gestört - mit Folgen. Glücklicherweise sind diese Schreckensszenarien dank hochtechnologisierter Medizin weniger geworden. Vieles kann abgewendet oder gar vorausgesagt werden.
Deutlich häufiger zeigen sich allerdings auffällige Kinder als Folgeerscheinung der heutigen Gesellschaft, so die Expertin. "Eine Mutter, die die ganze Zeit mit dem Handy herumrennt, Sorgen hat und überfordert ist", werde eine entsprechende Reaktion des Kindes zu spüren bekommen. Der Stress springt praktisch über. Was aber nicht vergessen werden darf, ist, dass das auch bei Entspannung der Fall ist. Ziel sei eine Kalibrierung und Sprachfindung, damit Eltern wieder Experten für ihr eigenes und einzigartiges Kind werden können, betont Leibovici-Mühlberger.
Die am Freitag in den Kinos anlaufende neue Dokumentation "Nicht von schlechten Eltern" (siehe unten) gibt Einblick in diese besonders aufwendige Beziehungsarbeit voll von Herausforderung und Emotionen.