Vor 200 Jahren entdeckt, wurden die Spektrallinien zum wichtigsten Forschungsinstrument der Astronomen. Sie zeigen chemische Elemente an - und sie dienen als kosmischer Zollstock.
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Bayern, 1814: In einer Glashütte, eingerichtet im aufgelösten Benediktinerkloster von Benediktbeuern, verbessert der geniale Handwerkersohn Joseph Fraunhofer alle Schritte der Glas-erzeugung. Er will Teleskoplinsen von unerreichter Qualität herstellen. Um die Brechkraft seiner Rohlinge aus Kron- und Flintglas zu bestimmen, sucht er klar erkennbare "Markierungen" im Sonnenlicht. Schon Isaac Newton hatte es knapp 150 Jahre zuvor mit einem Prisma in Regenbogenfarben zerlegt: Rot, Orange, Gelb, Grün, Blau und Violett.
In diesem kontinuierlichen Spektrum laufen die Farben nahtlos ineinander über. Um das genauer zu untersuchen, umgibt Fraunhofer sein Glasprisma mit weiteren optischen Elementen. Er erfindet das Spektroskop. Dieses zeigt ihm "fast unzählig viele starke und schwache vertikale Linien" im Farbenband der Sonne. Bald wird Fraunhofer auch im Spektrum der Venus oder des Fixsterns Sirius dunkle Linien ausmachen.
Die Ursache dieser Fraunhofer-Linien bleibt fast ein halbes Jahrhundert lang ungeklärt, nämlich bis zu den bahnbrechenden Experimenten von Robert Wilhelm Bunsen und Gustav Robert Kirchhoff in Heidelberg. Wie diese der Welt 1860 mitteilen, zeigen Spektrallinien die Anwesenheit chemischer Elemente an - sowohl im irdischen Labor als auch auf der Sonne.
Kirchhoff entschlüsselt gleichsam die "Sprache des Lichts": Unter sehr hohem Druck liefern Gase ein kontinuierliches Spektrum. Daher spielt das Licht der Sternoberfläche gleichzeitig in allen Farben und wirkt fürs Auge mehr oder weniger weiß. Erst die chemischen Elemente in der darüber ruhenden, dünneren Sternatmosphäre prägen dem kontinuierlichen Spektrum dunkle Linien auf. Verdampft man die gleichen Elemente im Bunsenbrenner, produzieren sie helle Linien - an den exakt selben Stellen im Farbenband. Der Vergleich verrät also das Inventar der stellaren Gashülle. Somit erlaubt die Spektralanalyse erstmals sichere Aussagen über die Zusammensetzung astronomischer Objekte.
Pickerings Harem
An der Vatikansternwarte mustert Pater Angelo Secchi bis 1877 die Spektren von 4000 Sternen. Er teilt die fernen Sonnen in Spektraltypen ein. Schließlich hält man die Farbbänder, freilich in Grautönen, auch auf Fotoplatten fest. Das erleichtert ihre präzise Auswertung. Am Harvard College Observatory in Massachusetts setzt Direktor Edward Pickering ein dünnes Glasprisma vors Fernrohrobjektiv. Jede Platte hält so gleichzeitig Dutzende kleiner Sternspektren fest. Tagsüber analysiert Pickerings ehemalige Haushälterin Williamina Fleming mehr als 600 solcher Fotografien, mit über 28.000 Spektren.
In den Achtzigerjahren des 19. Jahrhunderts heuert Pickering sogar ein Dutzend weiblicher Arbeitskräfte an. Frauen sind billiger als Männer. Die Auswertung der fotografischen Spektren öffnet ihnen den Weg in die Astronomie, wenngleich so mancher Astronom spöttisch von "Pickerings Harem" spricht. Fleming ersinnt für die Sternspektren ein komplexes Einteilungsschema, dessen Schubladen mit den Buchstaben des Alphabets versehen werden. Pickering streicht etliche. Dem verbleibenden Sextett stellt Flemings Kollegin Annie Jump Cannon noch eine siebente Klasse voran.
Das fertige Schema mit den Kategorien O, B, A, F, G, K und M setzt sich 1922 durch. Der Merkspruch "Oh Be A Fine Girl, Kiss Me" wird legendär, wobei weibliche Astronomen heute statt "Girl" auch "Guy" sagen dürfen; dieser Spektralklasse "G" gehört übrigens auch unsere Sonne an. Die Abfolge der Klassen spiegelt fallende Hitze wider - von den unglaublich heißen, ganz leicht bläulichen O-Sternen bis hin zu den etwas rötlichen M-Sternen mit schon recht gemäßigten Temperaturen. Als 1995 die extrem kühlen Braunen Zwergsterne entdeckt werden, fügt man hinten noch die Klassen L, T und Y an.
1913 entwickelt der Däne Niels Bohr sein Atommodell. Es ist heute zwar überholt, erklärt das Zustandekommen der Linien aber anschaulich. Demnach ziehen Elektronen auf genau festgelegten Bahnen um ihren Atomkern. Von Energie angeregt, springen sie auf eine höhere. Dabei wird das Licht jener Wellenlänge verschluckt (absorbiert), die der Energiedifferenz der beiden Bahnen entspricht: Dunkle Absorptionslinien entstehen. Stürzen die Elektronen hingegen auf eine energieärmere Bahn hinab, wird farbiges Licht derselben Wellenlänge ausgestrahlt (emittiert). Es kommt zu hellen Emissionslinien. Bei jedem Atom existieren mehrere, aber typische Start- und Landebahnen. Deshalb produziert jedes Element seine charakteristischen Linienserien.
Spektren sind für Chemiker somit ähnlich beredt, wie Fingerabdrücke für Kriminalisten. Sie geben sogar die physikalischen Bedingungen am "Tatort" preis: So erkennt Pickerings Mitarbeiterin Antonia Maury, dass ansonsten ähnliche Spektren teils breite, teils aber schmale Linien aufweisen können. Das hängt von der Teilchendichte im Gas ab. Hoher Druck macht die Linien breiter. Der dänische Astronom Ejnar Hertzsprung nützt diese Entdeckung später, um Zwergsterne von Riesensternen zu unterscheiden.
Schon 1896 fiel Pieter Zeeman auf, dass Magnetfelder Spektrallinien aufspalten. Dieser Effekt entlarvt die Sonnenflecken bald als Sitz besonders dramatischer Kräfte. Wo das Magnetfeld tausende Male intensiver ist als auf Erden, hemmt es das Aufsteigen heißer Materie aus dem Sonneninnern. Resultat sind die relativ kühlen und daher dunkel anmutenden Fleckengebiete. Später wird man auf anderen Sternen noch viel gigantischere Flecken nachweisen.
Methusalem des Alls
1944 stößt Walter Baade abermals auf Differenzen: Etliche Sterne sind arm an chemischen Elementen, die schwerer sind als Wasserstoff und Helium. Andere haben davon mehr abbekommen. Diese schwereren Elemente müssen zuvor aber in anderen Sternen geschmiedet worden sein - der Urknall selbst hinterließ sie nicht. Mithilfe der Spektren teilt Baade die Milchstraßensterne in zwei unterschiedlich alte Populationen. Unsere Sonne, geboren vor 4,57 Milliarden Jahren, zählt demnach zur jüngeren. Anders der Stern SM0313: Wie im Februar 2014 verlautbart, zeigen seine Spektren neben Wasserstoff und Helium nur äußerst schwache Linien von Lithium, Kohlenstoff, Magnesium und Calcium. Eisen ist überhaupt nicht nachweisbar. Dieser "Methusalem" wäre demnach fast dreimal so alt wie unsere Sonne.
Elemente sind wie Buchstaben, Moleküle hingegen wie Worte: Sie erzählen mehr. Manchmal sorgen Molekülspektren für Ernüchterung. So scheiterte 1937 der Versuch, Wasserdampflinien in der Marsatmosphäre nachzuweisen. Der Rote Planet erwies sich als kalte, unfreundliche Wüstenwelt. Den teils wilden Spekulationen über intelligente "Marsianer" wurde damit jede Grundlage entzogen.
Moleküle existieren nur bei niedrigen Temperaturen. Im eiskalten Raum zwischen den Sternen stieß man auf den spektralen Fingerabdruck von Alkohol - ein Fund, der für denkbar großes Medienecho sorgte. Man entdeckte dort aber auch zahlreiche andere Moleküle, wie Cyanwasserstoff, Formaldehyd oder Ameisensäure. Das Radioteleskop ALMA konnte ein einfaches Zuckermolekül aufstöbern, das zu den Bausteinen des Lebens zählt. In der Molekülwolke Lynds 1544 zeigten Infrarotspektren Wasserdampf an - so viel, dass man die irdischen Ozeane damit 2000 Mal nachfüllen könnte. Bald wird dort ein Stern geboren: Seinen künftigen Planeten stünde ein reiches Wasserreservoir zur Verfügung.
Ähnlich unserer Sonne besitzen die meisten Sterne planetare Begleiter. Bislang gelang es nur in Einzelfällen, die Spektren solcher Exoplaneten aufzunehmen. Sensationell wäre der Nachweis von Wasserdampf, Kohlendioxid, Sauerstoff, Ozon und Distickstoffmonoxid in einer Planetenatmosphäre: Tauchten diese Gase gemeinsam auf, könnte das auf biologische Aktivitäten hinweisen. Das Spektrum zeigte dann gewissermaßen "Lebenslinien".
Spektrallinien haben ihren festen Platz. Allerdings nicht, wenn sich das Objekt auf uns zu oder von uns weg bewegt. Dann rücken sie dank des Doppler-Effekts Richtung Blau bzw. Rot; das Ausmaß der Versetzung gibt die Bewegungsrichtung und die Geschwindigkeit der Lichtquelle preis.
Periodischer Linientanz
In engen Doppelsternsystemen hält ein Partner meist gerade auf uns zu, während der andere forteilt. Dann wird die Richtung getauscht. Im gemeinsamen Spektrum klaffen die Linien der beiden somit rhythmisch auseinander, um sich dazwischen wieder zu vereinen. Die Periodizität des Linientanzes verrät die Umlaufzeit. So entdeckte man z.B. Weiße Zwergsterne, die alle fünf Minuten umeinander herumwirbeln!
Ist ein Sternbegleiter zu klein und zu schwach, fehlt sein Licht im gemeinsamen Spektrum. Dann rücken nur die Linien des sichtbaren Hauptsterns periodisch gegen Rot oder Blau. So gingen den Astronomen seit 1995 auch immer wieder Exoplaneten ins Netz: Dem besten Spektrografen der Europäischen Südsternwarte (ESO) genügt es schon, wenn sich der Stern bloß um einen Meter pro Sekunde bewegt. Etwaige Außerirdische täten sich mit diesem Verfahren allerdings schwer, unsere kleine Erde zu entdecken. Dazu müssten sie zehnmal feiner messen.
Auch die Expansion des Weltalls wurde 1929 erst mithilfe von Galaxienspektren nachgewiesen. Je weiter man ins All hinaus blickt, desto deutlicher rücken die Linien zum langwelligen Ende des Farbenbands. Die Rotverschiebung verrät somit die Distanz einer fernen Milchstraße. Dieser Zollstock reicht mittlerweile mehr als 13 Milliarden Lichtjahre weit.
Dank preisgünstiger Spektralgitter und passender Software wenden sich heute auch immer mehr Hobbyastronomen der Spektralanalyse zu. Im Vorjahr untersuchten sie z.B. eine helle Nova, die im Sternbild Delfin aufblitzte. Als sie langsam wieder verblasste, wandelte sich ihr Linienspiel dramatisch.
Christian Pinter, geboren 1959, lebt als freier Journalist in Wien und schreibt seit 1991 über astronomische Themen im "extra". Internet: www.himmelszelt.at