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In die windgeschützten Nischen von Hauseingängen betonieren sie Metallstacheln ein, damit Obdachlose dort keine Zuflucht mehr finden können: Was geht in Menschen eigentlich vor, die etwas Derartiges tun?
Der Fall ist ruchbar geworden durch die sozialen Internet-Netzwerke Twitter und Facebook. Die Empörung ist groß, denn im Verständnis jedes Nachdenkenden bedeuten diese Stacheln, dass Menschen nicht nur den kargen Schutz vor Wind und Wetter einbüßen, sondern durch diese Geste zu Ungeziefer deklariert werden: Stacheln gegen Tauben - Stacheln gegen Obdachlose.
Geschehen ist das Ganze in London: Im Hauseingang eines Nobelquartiers hatte ein Obdachloser die Nacht zugebracht. Wenige Wochen später wurden die Spikes einbetoniert. Die britischen Hilfsorganisationen zeigen sich keineswegs verwundert: Nicht nur die Supermarktkette Tesco verwendet Anti-Obdachlosen-Spikes, sie kommen auch in China zum Einsatz, und in Japan werden zunehmend runde Bänke aufgestellt, damit Obdachlose darauf kein Nachtquartier finden können. Stacheln gegen Obdachlose, Hasstiraden gegen Homosexuelle und Immigranten - es gab Zeiten, in denen Kulturschaffende sich empört hätten. Einem Bertolt Brecht wäre ein Protestsong zuzutrauen gewesen. Heute aber nimmt die Mehrheit der Künstler den Verfall des sozialen Gewissens ohne Protest hin. Es scheint, als sei durch die Postmoderne nicht nur die Ästhetik zum Selbstbedienungsladen geworden, sondern auch die Moral. Nicht in der Seele sitzt der Stachel - die Seele selbst hat Stacheln bekommen.