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Die Stadt als Buch der Welt

Von Ingeborg Waldinger

Reflexionen

Der deutsche Autor Alexander Kluy hat das jüdische Paris erkundet - und eine Kartographie des Flüchtigen erstellt.


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Metropolen sind vielschichtige Zeichenräume. Unterhalb ihrer Erscheinungswelt sind unendlich viele Wirklichkeiten zu entdecken. Die Summe des Oben und Unten, des Realen und Fantastischen fügt sich zu einem großen Text. Paris nimmt in dieser Hinsicht eine Sonderstellung ein. Walter Benjamin verglich diese Stadt mit einem ganzen "Bibliothekssaal, der von der Seine durchströmt wird". Zwar keine Bibliothek, aber doch "ein aufgeschlagenes Buch" nannte es Ludwig Börne; "durch seine Straßen wandeln heißt lesen", begeisterte sich der Frankfurter Publizist und Autor schon 1822 in seinen "Schilderungen von Paris".

Register der Geschichte

1830 kehrte der Freidenker wieder, blieb bis an sein Lebensende (1837) und setzte seine Stadt-Lektüre fort: als Flaneur, als Intellektueller - und als Jude, geprägt vom Antisemitismus seiner Heimat. Die Seine-Metropole war für ihn "ein Register der Weltgeschichte, man braucht bloß die alphabetische Ordnung zu kennen, um alles zu finden".

Knapp 200 Jahre später schlägt der deutsche Autor Alexander Kluy in diesem Register nach und kristallisiert jene Namen, Fakten und Daten heraus, die zusammengenommen eine eigene Erzählung ergeben; eine, die sich immerzu fortschreibt. "Jüdisches Paris" heißt das Ergebnis seiner Stadterkundung, welche der Mandelbaum-Verlag nun in Form eines "City Guide" präsentiert.

Wie andere Stadtführer auch, weist das Buch den Weg zu Sehenswürdigkeiten, Institutionen und Museen; zu Hotels, Bars, Restaurants und Läden. Doch den Gebäuden und Orten ist eines gemein: sie sind mit der jüdischen Geschichte von Paris direkt oder indirekt, in jedem Fall aber untrennbar verbunden.

Arrondissement für Arrondissement nimmt Kluy die Spur jüdischer Literaten, Künstler und Lebenskünstler auf, porträtiert jüdische Wirtschaftstreibende, Wissenschafter und Politiker. Die einen wurden in Paris geboren, die anderen waren zugewandert: auf der Suche nach dem Geist der Revolution, der künstlerischen Avantgarde, dem Fortschritt, einem Wirtschaftsstandort - oder nach einem sicheren Exil. Und dann gibt es noch die Gruppe jener, für die Paris nur ein Durchgangsort war: weil sie dies so geplant hatten, oder aber weil man sie auch aus dieser weltoffenen Stadt vertrieb.

Alexander Kluys Guide bietet dem Leser zunächst einen historischen Abriss des jüdischen Lebens in Paris. Dieses ist seit dem Frühmittelalter belegt und spiegelt jene Wechselfolge von Toleranz und Repression wider, die das Schicksal der Juden in weiten Teilen Europas bestimmte. Man bezichtigte sie dunkler Ritualmorde und tückischer Brunnenvergiftung, diskriminierte und vertrieb sie. Doch war der Regenten Kasse leer, holte man sie zurück.

Erst das 19. Jahrhundert brachte den Pariser Juden zivile und kulturelle Gleichberechtigung. Unter diesen Vorzeichen glückten große Karrieren - und keimten neue Ressentiments, die in der berühmten Dreyfus-Affäre kulminierten. Der Justizskandal um den zu Unrecht wegen Landesverrats verurteilten und aus der Armee entlassenen Offizier spaltete die Nation; der Schriftsteller Émile Zola erzwang durch seinen Offenen Brief "Ich klage an" eine öffentliche Debatte; die Rehabilitierung des Opfers erfolgte erst Jahre später.

In der Folge erlebte die jüdische Gemeinde einen manifesten Aufschwung. Man gründete eigene Verbände und Organisationen; beträchtliche Vermögen flossen in Kunstförderung, Synagogenbau und Sozialstiftungen. Von 1900 bis 1939 verdoppelte sich die Zahl der Juden in Paris aufgrund massiver Zuwanderung aus dem Elsass wie aus Ländern Mittel- und Osteuropas. Das Viertel Montmartre entwickelte sich zum Brennpunkt für jüdische Künstler und Intellektuelle, der Arbeiterbezirk Belleville wurde in den 1920er und 1930er Jahren ein Zentrum jiddischen Gemeindelebens und auch linker jüdischer Einwanderer.

Mit dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht in Frankreich (Juni 1940) endete nicht nur die Dritte Republik, sondern auch alle Sicherheit für Juden. Eine Massenflucht aus Paris, Ost- und Nordfrankreich Richtung Süden setzte ein. Ab November 1942 war auch die "zone libre" von deutschen Truppen okkupiert. Die Lage der Juden war dramatisch: erst hatte man sie gezählt, dann verhaftet und interniert, schließlich in die Vernichtungslager Osteuropas deportiert.

Nach Kriegsende erfolgte der schwierige Wiederaufbau jüdischen Lebens, und ab den 1950er Jahren eine nächste Zuwanderungswelle. Nun waren es Juden aus den entkolonialisierten Maghreb-Staaten, die in Scharen nach Paris zogen. Und abermals flammte der Antisemitismus auf. 1980 forderte ein Bombenanschlag auf eine Pariser Synagoge vier Tote und 20 Verletzte, zwei Jahre später starben beim Attentat auf das Restaurant Jo Goldenberg sechs Menschen. In beiden Fällen waren auch Dutzende Verletzte zu beklagen. Die Anschläge gingen allerdings nicht, wie vermutet, auf das Konto rechtsradikaler Kräfte, sondern wurden von einem Libanesen bzw. der Terrorgruppe Abu Nidal verübt. Der Nahostkonflikt warf erstmals seine Schatten auf das Zusammenleben von Muslimen und Juden an der Seine.

Heute verzeichnet die Agglomeration von Paris die größte jüdische Gemeinde Europas. Sie zählt 300.000 Mitglieder. Und doch verlieren ihre angestammten Bezirke zunehmend an Kontur. Der Erosionsprozess resultiert aus dem Zusammenwirken mehrerer Faktoren: zum einen steigt die Zahl der Mischehen zwischen jüdischen und nicht-jüdischen Bürgern, zum anderen zeitigt die Globalisierung ihre uniformierende Wirkung. Wie in allen Städten des Westens, geht urbane Authentizität verloren. Selbst das "Pletzl" im Marais-Viertel, wo das wahre Herz der Pariser Judenschaft schlägt, verliert allmählich seine Seele.

Ein paar Straßenzüge um die Rue des Rosiers formen diese Kernzone. Dort siedelten jüdische Zuwanderer seit dem Mittelalter. Erst kamen die Sepharden (spanischer und portugiesischer Herkunft), dann die aus Mitteleuropa und dem Elsass stammenden Aschkenasen. Das Pletzl war "Orientierungspol" und "Durchgangsstation beim sozialen Aufstieg" (Kluy). Es wurde überdies zum religiösen Zentrum: die Synagoge Buffault trägt die (Jugendstil-)Handschrift des Architekten Hector Guimard, der auch die Pariser Metrostationen gestaltete.

Stadtleser und Flaneure

Eine weitere Institution des Pletzl, das 1947 eröffnete Restaurant Jo Goldenberg, schloss 2007. Und man fragt sich mit einigem Recht, wie lange es die ebenso alte jüdische Bäckerei Sacha Finkelsztajn mit ihrem markanten gelben Portal wohl noch geben wird. Denn die Immobilien dieser Zone haben noch "Entwicklungspotential", was die Verdrängung der zahlreichen koscheren Lebensmittelgeschäfte und kleinen Handwerksbetriebe durch internationale Handelsketten zur Folge hat.

Alexander Kluy reiht sich mit seinem Paris-Buch in eine Riege prominenter Stadtleser und Flaneure, Spurensucher und Zeichendeuter ein. Besonders das 19. Jahrhundert inspirierte Autoren zu immer neuen Perspektiven der Stadtlektüre. Auf die poetischen Kartographien des alten Paris, das der Haussmannschen Stadterneuerung weichen sollte, folgen die Sublimierung der Pariser Urbanität zu einem Mythos der Moderne. Ihr anregender Kunst- und Unterhaltungsbetrieb, die prächtigen Boulevards, Großkaufhäuser und Passagen entfalten eine enorme Strahlkraft, desgleichen die Weltausstellungen, welche den technischen Fortschritt als gewaltiges Spektakel inszenieren.

"Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts" lautet ein berühmtes Prädikat; Paris verdankt es dem Berliner Essayisten, Philosophen und Proust-Übersetzer Walter Benjamin. 1926 bereiste dieser die Stadt zum ersten Mal. Sieben Jahre später, nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten, ging Benjamin nach Paris ins Exil, um es 1940 notgedrungen wieder zu verlassen. Diesmal mit dem Ziel USA, für die er bereits ein Visum besaß. Benjamin wollte über die Pyrenäen und Spanien nach Portugal fliehen, kam aber nur bis Port Bou, dem letzten Ort vor der spanischen Grenze. Die Auslieferung an die Deutschen vor Augen, nahm sich der Autor am 26. September 1940 das Leben.

Noch vor dem Exil hatte Walter Benjamin sein phänomenologisch-geschichtsphilosophisches Großprojekt über Paris begonnen, aber nicht abgeschlossen. Es erschien erst 1972 unter dem Titel "Passagen-Werk". Das zentrale Bild dieses Opus, die Passage, ist allerdings mit einem Subtext beladen: Schon der Surrealist Louis Aragon hatte diesen Ort in seinem Buch "Der Pariser Bauer" (Le Paysan de Paris, 1926) als Sinnbild des Flüchtigen - und somit der Moderne - charakterisiert. Das Wesen des Übergangs steckt schon im Wort Passage, doch Aragon erschließt dieses in seiner tieferen Bedeutung, die etwa auch das französische "pas" (Schritt, aber auch ein Verneinungspartikel), "passager" (flüchtig; Durchreisender), "passer" (vorüber-/durchgehen) oder "passé" (vorüber; Vergangenheit) beinhaltet.

In dieser semantischen Dimension spiegeln sich Chronik und zahlreiche Einzelschicksale der Juden von Paris. Und die Gleichzeitigkeit von Gegenwart und Abwesenheit. Alexander Kluys Guide führt zu deren dunklen Schicksalsorten und lichtvollen Wirkungsstätten. Mitunter legt nur noch eine Gedenktafel die Spur zu Biographien, Fakten und Mythen.

Der Leser begegnet Simone Signoret, Marcel Marceau oder Billy Wilder; Theodor Herzl, Sigmund Freud oder Joseph Roth, Heinrich Heine und Kurt Tucholsky, Allen Ginsberg und Arthur Miller, Serge Gainsbourg, Susan Sontag, Robert Capa oder André Kertesz. Er erfährt Spannendes über André Citroën, über die Bankiers Camondo oder über "Graf" Victor Lustig, der den Eiffelturm gleich zweimal verkaufte.

Das Buch "Jüdisches Paris" leistet wichtige Erinnerungsarbeit. Es lädt aber auch dazu ein, die viel beschriebene Metropole in neuer Perspektive zu erkunden.

Alexander Kluy: Jüdisches Paris. Mandelbaum Verlag, Wien 2011, 310 Seiten, 22,90 Euro.

Ingeborg Waldinger, geboren 1956, lebt als freie Journalistin in Wien und schreibt regelmäßig Reportagen, Rezensionen und kulturhistorische Beiträge für die "Wiener Zeitung".