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Die Stadt als Todesfalle

Von Ronald Schönhuber

Politik
In ganz Kiew sind Panzerigel aufgestellt. Nicht selten haben sie die Bewohner der Stadt in Eigeninitiative zusammengebaut.
© reuters / Gleb Garanich

Kämpfe im urbanen Raum gelten als größte militärische Herausforderung.


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Vor zwei Wochen waren die Bauarbeiter des in Kiew ansässigen Immobilienentwicklers KAN noch damit beschäftigt gewesen, Bürogebäude oder Wohnhäuser zu errichten. Nun wird an anderen Dingen gearbeitet. Die Männer um Vorarbeiter Zakhar haben in den vergangenen Tagen schwere Metallträger zusammengeschweißt, die nun als sogenannte Panzerigel verhindern sollen, dass mechanisierte russische Truppen nach Kiew vorstoßen. "Wir wissen nicht, wie man kämpft. Aber uns war bewusst, dass wir nützlich sein können", sagt Zakhar der Nachrichtenagentur Reuters.

Die Panzerigel, die derzeit an allen Ausfallstraßen und sonstigen neuralgischen Punkten der ukrainischen Hauptstadt zu sehen sind, stellen aber nur einen kleinen Teil dessen dar, was die Kiewer seit Beginn des russischen Einmarsches in die Ukraine vor zwölf Tagen in Stellung gebracht haben, um ihre Stadt zu verteidigen. Eisenbahnwaggons und schwere Stahlbetonsperren blockieren nun die Wege in die Stadt, dazwischen sollen improvisierte Bunker und Gefechtsstände ein Vordringen des Angreifers verhindern. Abgeriegelt wurden - dort, wo möglich - auch die Vororte. Die Brücke, die Kiew mit dem nordwestlich gelegenen Irpin verbindet, hatten ukrainische Truppen schon in den ersten Kriegstagen gesprengt.

Ein Schlachtfeld in 3D

Wann der Sturm auf Kiew erfolgen wird, wagt derzeit niemand in der Stadt zu sagen, doch es ist klar, dass die ukrainische Hauptstadt das primäre Kriegsziel der russischen Invasoren ist. Mit 3,3 Millionen Einwohnern ist Kiew nicht nur der wirtschaftliche, politische und kulturelle Mittelpunkt der Ukraine, eine Eroberung hätte auch enorme symbolische Bedeutung: Wolodymyr Selesnkyj befindet sich noch immer in der Stadt, die Verhaftung des zum Nationalhelden gewordenen Präsidenten und seiner Regierungsmannschaft wäre für den Kreml der erste Schritt zur Einsetzung einer prorussischen Marionettenregierung.

Westliche Militärexperten gehen allerdings davon aus, dass die russische Armee zunächst versuchen wird, große Städte wie Kiew oder Charkiw zu umzingeln, um die Verteidiger durch das Abschneiden von Munition und sonstigem Nachschub zu schwächen. In dieser Phase dürfte es auch noch einmal zu einer Intensivierung des Beschusses mit schwerer Artillerie und Raketenwerfer kommen, mit dem - dem bisherigen Kriegsverlauf nach zu schließen - nicht nur die gegnerischen Soldaten, sondern auch die in der Stadt verbliebenen Zivilisten zermürbt werden sollen.

"Gefechtstechnisch, strategisch und operativ ist die Einnahme einer Stadt eines der schwierigsten Unterfangen bei kriegerischen Auseinandersetzungen", sagt Major Klaus Kuss, Häuserkampfexperte an der Heerestruppenschule und stellvertretender Leiter des Instituts Jäger, der "Wiener Zeitung". "Die Soldaten müssen sich gewissermaßen auf einem dreidimensionalen Gefechtsfeld bewegen. Der Gegner kann aus U-Bahnschächten, aus dem Kanalsystem, aus Häusern mit zahlreichen Stockwerken und sogar von den Dächern feuern."

Die Komplexität und Unübersichtlichkeit des Geländes macht es dem Angreifer auch besonders schwer, strukturiert vorzugehen. Hinter jeder Ecke kann die Situation anders aussehen, jeder Straßenzug ist potenziell Neuland. "Der Verteidiger ist immer im Vorteil", sagt Häuserkampf-Experte Kuss. "Er verfügt nicht nur über Ortskenntnis, er hat auch Zeit gehabt, sich vorzubereiten." Ausgeglichen können diese immanenten Vorteile in der Regel nur durch einen erhöhten Einsatz von Mensch und Material werden. Laut dem Militärstrategen Franz-Stefan Gady muss ein Angreifer im urbanen Raum fünf bis zehn Mal so viele Truppen aufbringen wie der Verteidiger, um überhaupt eine Chance auf Erfolg zu haben. So hat die russische Armee im Jahr 1945 mehr als eine Million Soldaten für den Sturm auf Berlin zusammengezogen.

Riskante Blitzoperation

Sollte sich die russische Armee, die derzeit über 190.000 Soldaten in der ganzen Ukraine verfügt, entschließen, eine Großstadt wie Kiew oder Charkiw zu stürmen, würde sie sich daher vielleicht am ehesten für eine Blitz-Operation entscheiden, die die eigenen Verluste möglichst minimiert: Einen schnellen, tiefen Vorstoß ins Stadtzentrum, bei dem nicht nach links oder rechts gesehen wird, sondern alles dem Ziel untergeordnet wird, die wichtigsten Einrichtungen wie etwa Regierungsgebäude oder Rundfunkanstalten so rasch wie möglich unter Kontrolle zu bringen. Allerdings ist diese Variante, auf die das US-Militär bei der Eroberung Bagdads im Golf-Krieg gesetzt hat, für die russischen Soldaten ausgesprochen riskant. Sollte der Plan scheitern, droht der Angreifer selbst abgeschnitten und aufgerieben werden.

Scheitert Russland mit seinen schnellen Vorstößen, dürfte es nicht viele Alternativen zu einem langen und wohl auch ausgesprochen verlustreichen Kampf geben, unter dem auch die Zivilbevölkerung massiv leiden wird. "Man müsste sich dann Straße für Straße, Haus für Haus voranarbeiten, während der Gegner alles unter Feuer nimmt", sagt Kuss. "Das wird dann der Häuserkampf, den man von früher kennt."