Zum Hauptinhalt springen

Die Stadt an der Grenze

Von Michael Biach

Politik

Im türkischen Reyhanli werden schwerverletzte Flüchtlinge in improvisierten Spitälern versorgt.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 8 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Eine Plane für alle: In den provisorischen Zelten leben oft mehrere Familien auf engstem Raum zusammen.
© Biach

Reyhanli. Bereits in den frühen Morgenstunden ist der Menschenandrang vor dem Eingang des Emel-Hospitals außerhalb der türkischen Stadt Reyhanli enorm. Die in mehreren weißen Baucontainern eingerichtete Klinik liegt keine 50 Meter von der Grenze entfernt. Seit dem Ausbruch der Kampfhandlungen im benachbarten Syrien vor mehr als fünf Jahren behandeln syrische Ärzte hier Kriegsflüchtlinge, denen die Flucht über die türkische Grenze gelungen ist. Wer ins Emel-Krankenhaus kommt, wurde unmittelbar Opfer des Bürgerkriegs und so sind die Mediziner vor allem mit schwersten Brandverletzungen oder dem Verlust von Gliedmaßen durch Granatenexplosionen konfrontiert. "Wir sind durchaus gut ausgerüstet, aber es mangelt vor allem an Spezialisten, um die täglich größer werdende Schar an Opfern auch ausreichend gut behandeln zu können", erzählt einer der Ärzte vor Ort.

Hoffnung für Zijad

Immer öfter gleichen sich die individuellen Tragödien: Im Hof des Krankenhauses reihen sich junge Männer, denen das rechte oder linke Bein fehlt, manchmal fehlen auch mehrere Gliedmaßen. Kinder und Frauen sind mit Brandwunden übersät, andere haben ihr Augenlicht verloren. In einem kleinen Ordinationsraum wartet der 8-jährige Zijad, der erst vor kurzem mit seiner Familie aus der lediglich 50 Kilometer entfernten und heftig umkämpften Region Idlib in die Türkei geflohen ist. "Mein Sohn ging aus dem Haus, als plötzlich eine Bombe einschlug und ihn schwer verletzt hat", berichtet sein Vater mit knappen Worten die schreckliche Tragödie, die im syrischen Bürgerkrieg längst schon zur täglichen Routine geworden ist.

Zijads Hände, sein Oberkörper und das Gesicht des Buben sind seitdem mit Brandwunden überdeckt. Zwar konnte der Bub bereits in Syrien in einem der noch nicht zerstörten Krankenhäuser versorgt werden, eine weitere Behandlung des nicht komplett verheilten und mittlerweile infizierten Narbengewebes muss jedoch von Spezialisten übernommen werden.

Maria Deutinger ist Fachärztin für plastische Chirurgie in Wien und reist bereits zum zweiten Mal in die Grenzstadt Reyhanli, um im Emel-Hospital mehrere Tage lang Operationen für betroffene Kriegsflüchtlinge durchzuführen. "Den meisten Menschen kann mit einer ein- oder zweistündigen Operation bereits sehr geholfen werden, ihr Leiden zu mindern", sagt Deutinger. Geduldig nimmt sie sich für jeden Patienten Zeit, hört sich die persönliche Leidensgeschichte an und entscheidet, wie sie medizinisch am besten helfen kann. Nur wenige Minuten muss die Medizinerin den kleinen Zijad untersuchen, dann kann sie ihm und seinem Vater bereits eine positive Nachricht geben: Das infizierte Narbengewebe kann behandelt werden, dazu wird auch etwas Haut transplantiert werden müssen.

Weil viele Lager in der Türkei längst überfüllt sind, lassen sich die neu ankommenden Flüchtlinge mittlerweile neben Feldern nieder.

Im Laufe des Tages kommt ein knappes Dutzend weiterer Personen zur Voruntersuchung, die meisten von ihnen wird die Ärztin in den kommenden Tagen erfolgreich behandeln können. Deutinger ist Teil des privaten Hilfsprojekts "Balsam", welches von der gebürtigen Syrerin Marie Therese Kiriaky in Wien ins Leben gerufen wurde, um syrischen Menschen nahe der Grenze helfen zu können. Kurz nach Ausbruch des Krieges hatte sich Kiriaky ins Flugzeug gesetzt, um sich selbst ein Bild der Lage in Reyhanli zu machen und für die Flüchtlinge Hilfe zu organisieren. "Seitdem komme ich dreimal im Jahr in die Region", erzählt sie. Begleitet wird Kiriaky dabei jedes Mal von freiwilligen Helfern, Kinderpsychologen oder Fachärzten. "Es gibt viele Wege, das Leid der Menschen zu mindern", ist Kiriaky überzeugt. Im nahen Antakya kauft das "Balsam"-Team mithilfe von privaten Spenden Medikamente, Lebensmittel und Kleidung, um sie an einige der notleidenden Menschen zu verteilen. "Es ist ganz selbstverständlich, dass ich den Menschen aus meinem Geburtsland helfe. Nicht alle haben das Glück, zwei Heimatländer zu haben", erzählt die in Damaskus geborene Österreicherin.

Nach wie vor heftige Kämpfe

Auch die Bewohner von Reyhanli sind unweigerlich vom nahen Kriegsgeschehen betroffen: Am 11. Mai 2013 verübten Terroristen im Stadtzentrum einen Anschlag mit zwei Autobomben. Mehr als 50 Menschen starben, hunderte wurden schwer verletzt. Die türkische Regierung machte damals den syrischen Geheimdienst verantwortlich. Am wahrscheinlichsten ist jedoch, dass der Anschlag auf das Konto der im Grenzgebiet aktiven radikal-islamischen Al-Nusra Front geht.

Der Kampf gegen die Al-Kaida-nahe Terrororganisation ist auch von der offiziellen Waffenruhe ausgenommen und so gehen die Kampfhandlungen unvermindert fort. Erst am Freitag kamen bei erbitterten Kämpfen um ein strategisch wichtiges Dorf unweit von Aleppo laut Oppositionsangaben 73 Menschen ums Leben. Am Donnerstag soll es bei einem Angriff auf ein Flüchtlingslager unweit von Reyhanli mehr als 30 Tote gegeben haben, islamistische Rebellen und das Regime machen sich gegenseitig für das Massaker verantwortlich.

Immer mehr Menschen fliehen in die benachbarte türkische Hatay-Provinz, die bis 1939 selbst Teil des unter französischem Mandat verwalteten Syriens war. Die Akzeptanz für Flüchtlinge ist hier höher als in anderen Teilen der Türkei, dennoch stößt die Provinz an ihre Grenzen.

Die Türkei macht dicht

Der achtjährige Zijad erlitt bei einem Bombenangriff schwerste Brandverletzungen. Die Narben haben sich seither infiziert, doch die Ärzte in Reyhanli können helfen.

Seitdem die Türkei in einem umstrittenen Deal mit der Europäischen Union sechs Milliarden Euro an Finanzhilfe erhalten hat, um im Gegenzug den Flüchtlingsstrom nach Europa einzudämmen, ist es den türkischen Behörden durchaus ernst, die letzten Lücken an der grünen Grenze zu schließen.

Dabei scheuen sie nicht vor drastischen Maßnahmen zurück: Entlang der Grenze bei Reyhanli tragen Bulldozer Teile des umliegenden Hügels ab, um einen unüberwindbaren Abhang zu schaffen, der die Flüchtlinge an der unkontrollierten Einreise in die Grenzstadt hindern soll. Im Niemandsland wird zusätzlich eine Betonmauer errichtet, mit der die Grenze auch gegen islamistische Terroristen gesichert werden soll.

2,7 Millionen Syrer sollen sich mittlerweile in der Türkei befinden, viele von ihnen leben in der grenznahen Region und hoffen, doch noch irgendwann nach Syrien zurückkehren zu können. Bei vielen Flüchtlingen herrscht mittlerweile jedoch die Angst, sie könnten aus der Türkei wieder in das Bürgerkriegsland abgeschoben werden. Nur wenige haben Papiere, manche nicht einmal einen Platz in den vollkommen überfüllten Flüchtlingscamps.

Für eine Handvoll Lira

Am Rande von landwirtschaftlichen Nutzflächen findet man daher auch viele provisorische Zelte, in denen oft mehrere Familien leben. Ihnen fehlt das Geld für eine fixe Unterkunft oder gar eine Weiterreise innerhalb der Türkei. In den Straßen der Grenzorte betteln alte Frauen und Kinder, versuchen mit dem Verkauf von Feuerzeugen ein paar türkische Lira zu verdienen. "Meine Eltern haben gesagt, ich muss vor dem Abendgebet wieder daheim sein, sonst schnappt mich die Polizei, und wir müssen zurück", erzählt ein 7-jähriges Mädchen in der größten Einkaufsstraße von Antakya.

"Viele der syrischen Kinder in der Grenzregion sind leider nur schlecht versorgt. Es fehlt an jeglicher Betreuung", sagt Marie Therese Kiriaky. Sie freut sich, dass sie es geschafft hat, einen Kinderarzt mitzubringen, der sich eine Woche lang zumindest medizinisch um die jüngsten der Flüchtlinge kümmern kann. "Viele Kinder haben Infektionen aufgrund der mangelnden Hygiene", berichtet Talal Mejwel, der aus dem Irak stammt und ebenfalls in Wien lebt. Vor der improvisierten Praxis hat sich eine lange Warteschlange gebildet. Mehrere hundert Patienten untersucht er in nur wenigen Tagen, diagnostiziert die Krankheit und verteilt zuvor gekaufte Medikamente an die Mütter der Kinder.

In Reyhanli hat sich mittlerweile eine weitere Klinik mit syrischen Ärzten angesiedelt. Auch hier werden täglich hunderte syrische Flüchtlinge betreut, nun warten die Mediziner auf die notwendige staatliche Genehmigung, um Operationen in der Türkei durchführen zu können. Um Hilfe bei ausländischen Ärzten hat man schon angefragt und berät sich auch intensiv mit dem "Balsam"-Team. Bedarf besteht ausreichend, das zeigt ein Blick ins benachbarte Emel-Hospital, wo dutzende Kriegsopfer auf eine rasche Behandlung ihrer schweren Verletzungen hoffen.