Kosice in der Slowakei hat ein schmuckes Zentrum und sanierte Wohngebiete, aber die Romasiedlung "Lunik IX" am Stadtrand gleicht einem Elendsviertel.
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"Why!? Why did you come to Košice?" Ich habe Peter Kaco gerade erst in einem der Straßencafés an der Hlavna, der schönen Flaniermeile von Košice, kennen gelernt, da schießt die unvermeidliche Frage auch schon aus ihm heraus. Und es schwingt sehr viel Unglauben mit - als ob es für den 55-jährigen Werbefachmann derzeit nichts Absurderes gäbe, als die zweitgrößte Stadt der Slowakei zu besuchen. Meine Antwort muss für ihn dann auch unbefriedigend gewesen sein: "Weil ich wissen wollte, wie es in der zweitgrößten Stadt der Slowakei aussieht". Rückblickend hätte sie aber auch lauten können: Weil es - in Anlehnung an den Roman "Der Weltensammler" von Ilija Trojanow - von Wien aus kaum möglich ist, mit geringerem Aufwand Welten zu sammeln, als mit einer Zugreise nach Košice.
Schon die Fahrt nach Bratislava lässt vermuten, dass man unterwegs ist in eine Weltgegend, die zwar vor der Haustür liegt, aber in den Köpfen der meisten Österreicher und auch der verantwortlichen Politiker viel weiter weg liegt. Bratislava ist von Wien gleich weit entfernt wie St. Pölten, dennoch braucht der Zug in die acht Mal größere slowakische Hauptstadt fast doppelt so lang wie in die niederösterreichische Hauptstadt.
Land ohne Bauern
Hinter Bratislava ist die Welt grün. Alles ist grün, die ausgedehnten Ebenen und später die Berge, durch die sich die Bahn, dem Verlauf der Waag folgend, windet. Und doch ist es eine Landschaft, die schön anzusehen und irritierend zugleich ist. Was genau ungewohnt und anders ist, fällt nicht sofort ins Auge. Erst nach einiger Zeit entdeckt man, dass es ein Land ist, in dem es keine Bauern und Bauernhöfe gibt. Ein Land, das auch zwanzig Jahre nach dem Fall der Mauer noch immer von Kolchosen und nicht von bäuerlichen Familienbetrieben bewirtschaftet wird. Und damit auch nicht die für Österreich typischen Einzelhöfe, Weiler und kleinen Blockfluren kennt, denen es sein aufgelockertes und abwechslungsreiches Landschaftsbild verdankt.
Die slowakischen Landschaften dagegen sind grün, aber vergleichsweise eintönig: Felder, die nicht aufhören. Dazwischen gelegentlich ein Dorf, kompakt, mit eng beieinanderstehenden Häusern, als wären sie von einer unsichtbaren Mauer umgeben. Die Häuschen grau, viele schlicht und würfelförmig; nur selten hat ein Hausbesitzer bisher Geld und Mut gefunden, die kommunistische Schockstarre zu überwinden und sein Haus mit bunten, grellen Farben anzustreichen.
Landwirtschaft ist in der Slowakei kein Thema. Sie hat keine Bedeutung. Zu sehr hat man sich seit der Öffnung als Industriena-tion verstanden und sich bemüht, Investoren ins Land zu holen. Durchaus auch mit Erfolg, wie die Anteile der Autoindustrie rund um Bratislava und der Metallindustrie bei Košice am Wirtschaftsaufschwung beweisen. Wer jedoch in den slowakischen Läden nach heimischen Produkten sucht, tut dies vergeblich.
Die Eier bezieht man aus polnischen Legebatterien und auch die Milch kommt vom nördlichen Nachbarn. Auch österreichische Produkte gibt es reichlich, wovon man sich mit einem Blick in eine der vielen Billa-Filialen überzeugen kann.
Erreicht der Reisende Košice, wird er eine Stadt vorfinden, die in drei Welten zerfällt. Die Schönste, die zum Herzeigen, befindet sich naturgemäß im Zentrum. Auf Initiative des damaligen Bürgermeisters und späteren Staatspräsidenten Rudolf Schuster wurde die Altstadt seit der Mitte der 1990er Jahre aufwendig saniert. Allen voran die Bürgerhäuser und Adelspaläste entlang der Hlavna, sowie das Bauensemble, bestehend aus gotischem Dom, Urbansturm und Jugendstiltheater, das die Hlavna in ihrer Mitte linsenförmig auseinanderzwängt. Hier im Zentrum strahlt die Stadt mediterranes Flair aus, hier wird vor schönen, herzeigbaren Kulissen flaniert oder mit ausländischen Geschäftsleuten zu Mittag gegessen.
Doch in diesem musealen und für Touristen aufgemöbelten Zentrum lebt keiner. Die Menschen wohnen in den tausenden Plattenbauten außerhalb, in Siedlungen, die durch ihre schiere Größe und Ausdehnung beeindrucken. Wer die Stadt erkunden will und im Zentrum in einen Bus steigt, egal in welcher Richtung, wird stundenlang nur ein Bild sehen: eine Schnellstraße, links und rechts davon Wohnblöcke, dazwischen ab und zu ein Supermarkt oder ein Fitnesscenter.
Immerhin nimmt die Stadt Geld in die Hand und beginnt gerade, den grauen Schachteln frische Farbe zu verpassen. Mit erstaunlichem Effekt. Die Farbe nimmt den eintönigen Wohnsilos den Schrecken. Beim Gang durch eine Siedlung mit frisch verpinselten Plattenbauten stellt sich damit sogar das unerwartete Gefühl ein, dass hier eine Art Normalität, ein Wohnen mit einer gewissen Lebensqualität, möglich ist.
Im Gegensatz zu Bratislava, das ebenfalls eine für Touristen gefällige Altstadt und eine große Ansammlung an Plattenbauten aufweist, kennt Košice aber auch noch eine dritte Welt. Oder auch eine "Dritte Welt". Denn in Bratislava leben kaum Roma, in Kosice dagegen liegt Lunik IX, das größte Romaghetto Europas.
Wand aus Plexiglas
Was die drei Welten miteinander verbindet, ist der städtische Bus mit der Nummer 11. Schneller und eindrucksvoller als mit dieser halbstündigen Busfahrt lässt sich die Verschiedenartigkeit der Stadt auch kaum erleben. Der Bus fährt am südlichen Ende der Hlavna los, genau zwischen dem Hilton, dem funkelnagelneuen Luxustempel, und einer der Großbaustellen, mit denen sich die Stadt auf das Europäische Kulturhauptstadt-Jahr 2013 vorbereitet. Schon das Innere des Busses weist auf die Eigenheit des Fahrtziels hin, denn die Busse der Linie 11 sind die einzigen, in denen der Fahrer durch eine Wand aus Plexiglas vom Fahrgastbereich abgetrennt ist. Zum Schutz des Fahrers vor den Fahrgästen, oder - wer weiß - auch umgekehrt.
Sobald der Bus das Zentrum verlässt, tauchen die obligatorischen, zum Teil schon freundlich angestrichenen Plattenbauten beiderseits der Schnellstraße auf. Nach einer halben Stunde hält der Bus beim Optima-Shoppingcenter, dem größten des Landes. Dann macht die Schnellstraße eine Biegung und führt von dieser gleich darauf zu einem kleinen rumpeligen Weg, der Zufahrtsstraße zu Lunik IX.
Zu Beginn der kommunistischen Ära ging man daran, der wachsenden, aus dem Land kommenden Bevölkerung neue Wohnungen zu errichten. Wohnungen, die für alle gleich sein sollten. Bei der Benennung der dabei entstandenen Vororte ließ man sich von den Erfolgen der sowjetischen Lunarsonden inspirieren, die in den 50ern die ersten Aufnahmen von der Schattenseite des Mondes und andere Messdaten lieferten. So entstanden die Vororte Lunik I bis IX.
Heute hat die Bezeichnung von Lunik IX einen bitteren ironischen Beigeschmack. Denn die Siedlung ist in einem derart verwahrlosten und tristen Zustand, dass man sich tatsächlich auf der Schattenseite des Mondes, nicht aber in einem Teil der EU wähnt. Und doch hängt von einem der wenigen niedrigeren Gebäude inmitten der 20 großen, mitgenommenen Wohnblocks eine kleine Europafahne. Was zum Schreien komisch ist. Denn wie es sein kann, dass in der EU, diesem Zusammenschluss einiger der reichsten Staaten der Erde, 5000 ihrer Bürger unter derart inhumanen und desolaten Lebensbedingungen hausen müssen, erscheint unbegreiflich.
Unbegreiflich und doch egal. Denn für die meisten Einwohner Košices existiert die Roma-Siedlung nicht. Sie zeichnet sich, wie schon Karl-Markus Gauß in seinem bemerkenswerten Buch "Die Hundeesser von Svinia" aufgezeigt hat, durch seine "Unsichtbarkeit" aus. Wen man auch fragt, Lunik IX kennt man nicht - und am besten spricht man auch nicht darüber.
So war auch die freundliche Angestellte der Touristeninformation noch nie in Lunik IX, sie weiß aber immerhin, wo es liegt. In professioneller Manier zückt sie den Gratisstadtplan, sucht den Bezirk, ringelt ihn ein und nennt mir den Linienbus, mit dem man hinkommt. Sie rate mir jedoch davon ab, hinzufahren. Gerade erst vor ein paar Tagen sei ein Kind aus der Siedlung in der Nähe des Optima-Einkaufszentrums von einem Auto überfahren worden, sie vermute deshalb, dass die allgemeine Gemütslage in Lunik IX derzeit noch emotionaler und aufgeheizter sei als sonst, alles in allem wäre es also kein guter Zeitpunkt für einen "Besuch".
Natürlich läuft dann alles ganz anders. Sobald wir uns dem Zentrum der Siedlung nähern, werden wir eingeladen, bei Dionýz Slepčík, dem Bezirksvorsteher, vorbeizuschauen und ihm ein paar Fragen zu stellen. Der freut sich über einen Besuch "von außen", viel zu sagen hat er aber nicht. Exemplarisch für die Misere von Lunik IX steht, wenig überraschend, sein Satz: "No money coming here." Dionýz organisiert einen "Leibwächter", ohne einen solchen lässt er uns nicht in die Siedlung.
Während wir dann mit unserem neuen Begleiter und seiner aufgeweckten Tochter Diana durch Lunik IX gehen, frage ich mich, wie es möglich ist, dass in ganz Košice allmählich alle Plattenbauten saniert und aus ihrer tristen Vergangenheit in eine lebenswerte Gegenwart geholt werden, während man ausgerechnet diese paar Blocks dem totalen Verfall preisgibt und in ihrem über Jahrzehnte angehäuften Schmutz belässt. Und nicht einmal eine Müllabfuhr hierher schickt.
". . . it’s gypsies"
Natürlich ist es nicht nur purer Rassismus, natürlich liegen die Probleme tiefer. Aber dass es in der slowakischen Gesellschaft einen verbreiteten und tief verwurzelten Rassismus gibt, das lässt sich nicht leugnen und das stellt auch Marek, der Busfahrer der Linie 11, eindrucksvoll unter Beweis: Nachdem wir an der Endhaltestelle in Lunik IX wieder in den dort wartenden Bus gestiegen waren, begann dieser plötzlich, die anderen Fahrgäste, allesamt Roma, durch sein Mikrofon anzuschreien. Minutenlang, bis alle bis auf uns den Bus wieder verlassen hatten. Daraufhin setzte er den Bus in Bewegung, fuhr einen Halbkreis und blieb gleich darauf bei der zehn Meter entfernten "Anfangshaltestelle" wieder stehen, um die dort in einer großen Traube wartenden Roma in den Bus zu lassen. Als ich Marek später auf die Szene anspreche, hat er dafür nur eine Erklärung parat: "It’s not people, it’s gypsies."
Ein Satz, der in seiner entwaffnenden und umwerfenden Brutalität für Außenstehende schwer nachzuvollziehen ist - und der doch keine Einzelmeinung darstellt, wie ebenfalls bei Karl Markus Gauß nachzulesen ist. In den "Hundeessern von Svinia" schreibt er über die Begegnung mit einem Slowaken: ",Du siehst aus der Weite einen Menschen näherkommen, sagte einer, der sich mir gegenüber zuvor höchst liebenswürdig erwiesen hatte, ,und wenn er da ist, siehst du, es ist doch nur ein Zigeuner."
Arthur Fürnhammer, geboren 1972, lebt als freier Autor und Journalist in Wien.