Zum Hauptinhalt springen

Die Stadt der zwei Welten

Von WZ-Korrespondentin Simone Brunner

Politik

In den Vororten von Donezk herrscht das Elend, während im Zentrum der ostukrainischen Metropole der Rubel rollt.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 8 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Donezk. Wenn Walentina um sechs Uhr Früh aufsteht und die Steinstufen hinauf ins Freie tritt, wird oft noch geschossen. Aber dann sei es zumindest hell, anders als im Keller, wo es den ganzen Tag über finster sei. Und wenn die Sonne so richtig aufgegangen sei, höre der Beschuss sowieso auf, sagt Walentina. Die Tür zur Holzhütte krächzt. Walentina heizt den Ofen ein. Frühstück für die Enkelkinder.

Walentina, Ende 50, hat sich in der Normalität des Krieges eingerichtet. Sie wohnt in Spartak, einem Vorort von Donezk, in der so genannten "grauen Zone", wie das Frontgebiet zwischen der ukrainischen Armee und den pro-russischen Separatisten genannt wird. Spartak wird von den Separatisten, der selbst-proklamierten "Donezker Volksrepublik" kontrolliert, doch 500 Meter weiter Richtung Norden, bereits in Sichtweite, weht schon die ukrainische Fahne. Die Häuser sind ausgebombt. Das Glas der Fenster ist unter dem Druck der Einschläge zerbrochen. Granatsplitter haben die bunten Gartenzäune durchlöchert, Unkraut überwuchert die Zufahrtsstraße.

"Die Kinder vermissen ihr Zuhause", sagt Walentina. Es klingt, als spräche sie von einem Ort fern der Holzhütte, die sie aus den Resten von zerbombten Häusern, Wellblech und Planen gezimmert hat, mit einem Ofen in der Mitte, auf dem sie jeden Morgen Tee für ihre Enkel kocht, bevor die zum Schulbus rennen. Fern des Kellers, in dem sie jeden Abend vor dem Einschlafen mit den Kindern auf dem Laptop Zeichentrickfilme schaut. Und meint dabei doch eigentlich die Wohnung, die nur zwei Stockwerke darüber liegt. Wo jetzt, im Oktober, schon die Kälte durch die zerborstenen Fenster kriecht. Ein Vorbote auf den Winter, ohne Strom, ohne Wasser, ohne Gas.

Der Krieg in der Ostukraine geht bereits in sein drittes Jahr. Jeden Tag sterben Menschen entlang der Frontlinie, wenngleich zumeist Soldaten, seltener Zivilisten. Wenig Hoffnung auf einen Waffenstillstand hat zudem der jüngste Ukraine-Gipfel in Berlin gebracht, bei dem sich erstmals seit einem Jahr wieder der ukrainische Präsident Petro Poroschenko und sein russischer Amtskollege Wladimir Putin getroffen haben. Die Waffen schweigen auch seither nicht. Vor allem in der Nacht, wenn die Beobachter von der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), die den Minsker Friedensplan überwachen sollen, in ihre Stützpunkte zurückgekehrt sind, schwillt der Beschuss wieder an.

Wer konnte, ist geflüchtet

Spartak war früher einmal ein beschauliches Dorf an den Ausläufern der Metropole Donezk, angebunden an den Nahverkehr, wo man aber trotzdem noch seine Tomaten ziehen und seine Hühner halten konnte. Knapp 2000 Einwohner zählte Spartak vor dem Krieg, heute sind es keine 100 mehr. Geblieben ist, wer kein neues Leben, keine Perspektive oder keine Arbeit anderswo gefunden hat. Auch Heimkehrer gibt es in Spartak, die in die Ukraine oder nach Russland geflohen sind, um mit der bitteren Erkenntnis zurückzukehren: "Dort wartet doch auch niemand auf uns."

Wenige Autominuten später. Am Fenster ziehen aufgelassene Bahntrassen, eine verwaiste Autobahn und verlassene Schächte vorbei. Doch mit einem Schlag ist das Leben wieder da. "Vorsicht, Kinder!" ist auf den Boden in einer Wohnsiedlung geschrieben, das Auto quält sich über Bremsschwellen. Schüler warten auf dem Bus. Bald säumen auch schon wieder die zahlreichen, sowjetisch anmutenden Plakate der Separatisten die Straße: "Die Republik im Herzen", oder "Zur Befreiung der Stadt und des Donbass!" Immer öfter blickt das Konterfei des Separatistenführers Alexander Sachartschenko auf die Passanten herab, wie eine Mahnung: "Der Donbass entscheidet selber über seine Zukunft."

Scheinnormalität

Im Donezker Zentrum, keine zehn Autominuten von Spartak entfernt, herrscht eine eigentümliche Normalität. Die Lenin-Statue blickt grimmig auf den rollenden Verkehr, die Fahnen der "Donezker Volksrepublik" wehen im Wind. Die Gehsteige sind blitzblank geputzt, Arbeiter kehren das Herbstlaub in den Parks zusammen. Im Kino laufen amerikanische Blockbuster und russische Komödien. Vor der Donezker Oper stehen die Polizisten mit ihren Warnwesten und strafen Autofahrer ab. Temposünder im Krieg.

Seitdem der schwere Beschuss nicht mehr im Stadtzentrum, sondern nur noch an der Peripherie niedergeht, hat sich die Metropole wieder mit Leben gefüllt. Viele, die die ehemalige 900.000-Einwohner-Stadt infolge der schweren Kämpfe 2014 und 2015 verlassen haben, sind wieder zurückgekehrt. Auch Menschen aus dem Umland sollen zugezogen sein. Offizielle Daten gibt es nicht, regimetreue Medien schätzen die Zahl mittlerweile auf 850.000 Einwohner. Dass es im Zentrum von Donezk manchmal wieder zu Staus kommt, werten die Donezker als gutes Zeichen.

Marmelade aus Österreich

Zwar sind auch hier längst nicht alle Spuren des Krieges verputzt und verwischt. Die Bürotürme stehen leer, die zerborstenen Fenster und viele Gassenlokale sind mit Spanplatten verriegelt. Doch jene Geschäfte, die geöffnet sind, lassen keine Wünsche offen: Hundefrisöre, Zigarrenclubs, Schönheitssalons. Vor einem Laden wird Ibérico-Schinken angepriesen, zu einem Preis von 3400 Rubel, umgerechnet 50 Euro. Eine erlesene Auswahl an französischen Weinen und Marmelade aus Österreich, um 3,5 Euro das Stück, in den Sorten Kirsche oder Erdbeere. Es ist kein Geheimnis, dass viele westliche Lebensmittel trotz der ukrainischen Blockade durch die Checkpoints geschmuggelt werden.

Zumindest an den Wochenenden sind die Lokale, die wieder offen haben, gut gefüllt. Um trotz des Abzugs aller internationaler Unternehmen nicht auf Cheeseburger, Apfeltasche und Big-Mac verzichten zu müssen, hat zuletzt am Lenin-Platz eine Filiale des "DonMak", eine Separatisten-Kopie der US-Kette McDonald’s, eröffnet. Inzwischen ist auch der Fußball in die Stadt, die vor dem Krieg den ukrainischen Rekordmeister Schachtar Donezk beheimatete, zurückgekehrt. Während die Fußballstars längt in die Westukraine umgezogen sind, stieg in Donezk zuletzt das Finale im "Cup der Donezker Volksrepublik." Donezk Pobeda schlug die Nachbarstadt Makeewka mit 2:0.

Fast könnte man hier vor lauter Brot und Spiele den Krieg vergessen, wenn da nicht die vielen Hinweise wären, die Lokale ohne Sturmgewehr zu betreten, sowie die tägliche Ausgangssperre von 23:00 bis 5:00 Uhr. Oder zuletzt das tödliche Attentat auf den russischen Separatisten-Kommandanten Arsen Pawlow (Kampfname: "Motorola"), als er in seinem Wohnhaus in den Aufzug stieg - so zumindest die offizielle Version. In der Nacht verwandelt sich Donezk jedenfalls in eine Geisterstadt. Dann ist nur noch das Donnern des Beschusses wie ein fernes Echo zu hören. Wie eine Erinnerung daran, dass irgendwo da draußen noch geschossen wird. In den Stadtteilen Oktjabrskij, rund um den völlig zerstören Flughafen Donezk, oder eben in Spartak.

Überlebenskampf

Zurück in Spartak. Walentina seufzt. Während viele Nachbarn eine Wohnung in Donezk gemietet haben, um dem Beschuss zumindest in der Nacht zu entgehen, kommt auch das für Walentina nicht in Frage. "Zu Beginn des Krieges wurden die Wohnungen noch zu den Betriebskosten an Notleidende vermietet", erinnert sie sich, "doch auch das ist jetzt vorbei." Als der Krieg ausbrach, hat Walentina ihren Job als Verkäuferin verloren. Sie harrte aus, weil sie hoffte, dass alles bald vorüber geht. Humanitäre Hilfe gibt es nur alle zwei Monate, da muss sich Walentina alles gut einteilen. Mehrere tausend Rubel, die sie monatlich für eine Wohnung in Donezk zahlen müsste, kann sie sich schlichtweg nicht leisten.

Es ist wie ein unsichtbarer Radius, der das Elend und die Not von der fragilen Normalität von Donezk trennt. Ob man nun im Krieg oder in Frieden lebt, ist in Donezk auch eine Frage des Geldes. Während es die gut Situierten geschafft haben, sich mit dem Krieg zu arrangieren, bleiben die Ärmsten an der Front zurück.

Ohrenbetäubendes Gebell dröhnt aus den Vorgärten von Spartak. Hunde fletschen vor ungeladenen Besuchern oder möglichen Plünderern die Zähne. Denn es gibt noch einen Grund, warum die letzten Bewohner von Spartak ausharren: Die Angst, auch noch das Wenige, das ihnen der nicht enden wollende Krieg gelassen hat, zu verlieren.