)
Der Bürgermeister von Kobane über die Schwierigkeiten der Rückkehrer.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 10 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Wien/Kobane. Fehlende Wasserversorgung und Stromnetze, verminte Straßen und Häuser, zerstörte Krankenhäuser und Schulen: Nach den vier Monate dauernden Angriffen der IS-Milizen auf Kobane ist die Stadt beinahe zur Gänze zerstört. Die Rückkehrer leben unter schwersten Bedingungen und führen auch in ihrer Heimatstadt ein Flüchtlingsleben. Diplomatische Gespräche sollen den Wiederaufbau der Stadt vorantreiben. Mustafa Abdi, der Bürgermeister von Kobane, der auf Einladung der Stadtverwaltung von Straßburg nach Europa kam, reist durch Europa, wo er Gespräche über den Wiederaufbau der Stadt führt, die Schätzungen zufolge zu bis zu 80 Prozent zerstört ist. Nach einem Vortrag vor dem Kongress der Gemeinden und Regionen des Europarates hält er sich derzeit in Wien auf.
Geschätzte 120.000 Menschen leben in Kobane
Von insgesamt 200.000 Kobane-Flüchtlingen in der Türkei sind laut Statistik der Grenzbehörden 40.000 in ihre Heimatstadt Kobane zurückgereist. Da aber die türkischen Grenzposten Flüchtlingen nur an drei Tagen in der Woche die Rückkehr genehmigen, wandern viele illegal über die Grenze. So schätzt Mustafa Abdi die Anzahl der jetzigen Bevölkerung von Kobane anhand des Brotkonsums in Höhe von 20.000 Kilo Brot täglich auf ungefähr 120.000 Personen.
"Nach dem Kampf gegen die IS-Milizen führen die Rückkehrer einen weiteren Kampf, und zwar gegen die schlechten Lebensbedingungen", stellt Abdi fest. Der Bürgermeister erklärt, dass die Rückkehrer auch in ihrer Heimatstadt wie Flüchtlinge leben. Die Stadt sei von nicht explodierten Bomben und Mörsergranaten übersät, Straßen und Häuser vermint. Für die Entminung sei Kobane auf die Hilfe von außen angewiesen.
Die Wasserversorgung haben die IS-Milizen nahezu vollkommen zerstört, berichtet Abdi. Die Qualität des Wassers aus den provisorisch errichteten Brunnen könne aufgrund der fehlenden Geräte und Experten nicht kontrolliert werden. Das wiederum bringe gesundheitliche Probleme mit sich. Ein Stromnetz sei gar nicht vorhanden.
Die IS-Milizen zielten nicht nur auf die Zerstörung der städtischen Infrastruktur, sondern auch auf die Zerstörung des Schul- und Gesundheitswesens ab. Von insgesamt 19 Schulen vor den Angriffen wurden vier vollkommen zerstört, die restlichen sind seit den Angriffen zum Großteil nicht nutzbar. Gegenwärtig arbeiten freiwillige Lehrer in vier Schulen. Dabei diene laut Bürgermeister Abdi der provisorische Schulbetrieb eher als Beschäftigungstherapie für die vom Krieg traumatisierten Kinder. Es gehe darum, die Kinder aus dem Kriegsalltag rauszuholen. Je nach Möglichkeiten bekämen sie Sprachunterricht auf Kurdisch, Arabisch und Englisch.
"Wir wollen, dass die Kriegskinder, die tagtäglich mit dem Tod und dem Anblick von Verwundeten konfrontiert sind, den Krieg, das Leben als Flüchtlinge und auch andere Ängste vergessen - wenn auch nur für kurze Zeit", fügt Abdi hinzu.
In Kobane werden derzeit auch Kranke und Verletzte in einer provisorischen Krankenstation im Gebäude eines ehemaligen Krankenhauses von Kobane betreut.
Für Operationspatienten sowie Schwerkranke gäbe es in Kobane keine Behandlungsmöglichkeiten. Und auch deren Behandlung in der benachbarten Stadt Suruc ist nicht möglich, da die türkischen Sicherheitskräfte diesbezüglich Schwierigkeiten bereiten würden.
Seuchengefahr durch verschüttete Leichen
Ein weiteres Problem für die Gesundheit der Bevölkerung seien die unter den Trümmern liegenden Leichen. Mit der wärmeren Jahreszeit, so die Befürchtung des Bürgermeisters, geht Seuchengefahr von den Leichen aus, die jedoch mit den gegebenen beschränkten Mitteln nicht freigeschaufelt werden können. Dafür seien größere Maschinen notwendig. Bisher wurden in Kobane 400 IS-Leichen geborgen und begraben, und deren private Besitze wurden archiviert.
Die Bedeutung der Frauen bei dem Wiederaufbau und der Selbstverwaltung ist dem Bürgermeister bewusst. "Ohne die Freiheit der Frauen ist ein freies Leben an sich nicht möglich", sagt Abdi. Er weist auf die Doppelsitzregelung in zwei anderen Kantonen im westkurdischen Gebiet Rojava hin; diese soll nun auch in Kobane eingeführt werden. Dabei geht es darum, jede politische Funktion jeweils mit zwei Personen, nämlich einer Frau und einem Mann, zu besetzen. Diese weltweit einzigartige Methode sieht Abdi als zukunftsträchtig. Doch den Radikalislamisten ist sie freilich ein Dorn im Auge.
Mustafa Abdi sagt, dass IS den Krieg nicht nur gegen die Bewohner von Kobane, sondern gegen die Menschlichkeit geführt hat. "Die Welt wurde Zeuge unseres Widerstands gegen den IS-Terror. Jeder, der gegen den IS-Terror ist, ist eingeladen, an unserem Sieg teilzunehmen. Wer will, kann sich an dem Wiederaufbau Kobanes beteiligen", meint Abdi und appelliert damit an die internationale Gemeinschaft, die Vereinten Nationen sowie an die EU und NGOs, um Hilfe für den Wiederaufbau und um die Solidarisierung mit den Menschen in Kobane. Das Wichtigste sei jedoch die Eröffnung eines sicheren humanitären Korridors seitens der Türkei für die notwendigen Hilfsgüter für die Rückkehrer, um deren Überleben zu garantieren.
Obwohl die Stadt von IS-Milizen gesäubert wurde, gehen die Gefechte im Süden und im Osten des Kantons, etwa 50 Kilometer entfernt von der Stadt, weiter. Laut Abdi seien jedoch die Angriffe der militärisch geschwächten IS-Milizen unter Kontrolle.
Mustafa Abdi ist 42 Jahre alt. Er ist seit der Kantonsgründung am 31. Jänner 2014 Bürgermeister von Kobane.