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Die Beschäftigtenzahlen in Europas Stahlindustrie sinken seit 2008 stetig.
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Wien. Eine Branche in Aufruhr: ThyssenKrupp schockt mit einem Rekordverlust. In Frankreich droht Industrieminister Arnaud Montebourg mit der Zwangsverstaatlichung des unrentablen Stahlwerks Florange, woraufhin Eigentümer Lakshmi Mittal plötzlich doch zu Investitionen in den Standort bereit ist. Und in Süditalien gehen die Wogen um das Riva-Stahlwerk Ilva in Taranto hoch: Emissionen sollen schuld sein, dass hunderte Bürger an Krebs erkrankt sind. Dennoch bleibt das Werk während der Sanierung in Betrieb: Europas größtes Stahlwerk ist mit gut 11.500 Beschäftigten schließlich der größte Arbeitgeber der Region.
Was ist nur los mit Europas Stahlindustrie? 2007 schien alles in bester Ordnung - der Output war hoch wie nie, die Auftragslage gut. Dennoch warnte die EU-Kommission schon damals: Die rasante Expansion neuer Konkurrenten vor allem aus China, die immer teureren Rohstoffe und die Kosten für den Kampf gegen den Klimawandel könnten Europas Stahlerzeuger in die Bredouille bringen. Dabei war noch gar keine Rede davon, dass die Krise die Konjunktur ganzer Industriezweige wegbrechen lassen würde: gerade im Bausektor, Anlagenbau und der Autoindustrie, bei den Hauptabnehmern für Stahl.
Bis zu 100.000 Jobs in Gefahr
Nach der überhitzten Hochkonjunktur vor der Krise kämpft Europas Stahlindustrie jetzt mit Überkapazitäten. Bis zu 210 Millionen Tonnen betrage Europas Rohstahlkapazität, aber nur 140 bis 145 Millionen würden verbraucht, sagte Voestalpine-Chef Wolfgang Eder, zugleich der Präsident des Stahlverbandes Eurofer, zur Deutschen Presseagentur. Daran werde sich auch bei besserer Konjunktur nicht viel ändern. In den nächsten drei bis fünf Jahren sei eine Bereinigung fällig, bei der 20 bis 25 Prozent gestrichen werden müssten. Was 100.000 Arbeitsplätze gefährden könnte. Droht also eine Marktbereinigung wie in den 1980ern?
Nicht jeder teilt Eders Befund: Manager der deutschen Mitbewerber ThyssenKrupp und Salzgitter sehen die Lage weniger als Kapazitätsüberhang, sondern als konjunkturelles Phänomen. Dagegen spricht jedoch, dass auch sie vom verlustträchtigen Geschäft des Stahlkochers wegkommen wollen: Nur noch 30 Prozent soll der Bereich künftig ausmachen, lautet die Vorgabe des neuen ThyssenKrupp-Chefs Heinrich Hiesinger. Die Stahlerzeuger sollen sich als Technologiekonzern neu erfinden.
Linz ist bereits am Limit
Aber auch dort ist nicht für alle Platz. Der Voestalpine sei der Absprung aus dem Massenmarkt, in dem die Preise am heftigsten umkämpft sind, zum Glück früh gelungen, heißt es in Linz. Dieser Vorsprung sei für andere nicht so rasch aufzuholen - die Entwicklung der neuesten Generation hochfesten Stahls für die Autoindustrie habe zum Beispiel 10 Jahre gedauert. Die Voestalpine erfreut sich somit immer noch einer Auslastung von 95 bis 100 Prozent. Anders als einige Mitbewerber denkt man weder an Kurzarbeit noch an verlängerte Weihnachtsferien. Am Standort Linz hat der Industrieriese mit 6 Millionen Tonnen Produktion unterdessen den Planungsplafond erreicht. Expandiert wird in Übersee: Die Voestalpine hat eben den kanadischen Edelstahlhersteller Sturdell Industries übernommen. Im US-Bundesstaat Georgia entsteht eine Fertigungsanlage für Automobilkomponenten.
Die Sorge, dass die Industrie einen Bogen um den alten Kontinent macht, hat längst auch Brüssel und Straßburg alarmiert. "Europa muss als Standort attraktiv bleiben", sagt der EU-Parlamentarier Paul Rübig (EVP) zur "Wiener Zeitung". Am Donnerstag wird im EU-Parlament über eine von den Sozialdemokraten und der Europäischen Volkspartei akkordierte Resolution abgestimmt, die Druck auf die Kommission machen soll: Der für Juni 2013 geplante Aktionsplan der Kommission zugunsten des Stahlsektors solle so rasch wie möglich vorgelegt werden.
Verschleppte Bereinigung
Denn Stahl gilt immer noch als Schlüsselindustrie. Hohe Energiepreise und teure CO2-Emissionszertifikate führen aber die ambitinierte EU-Strategie der Re-Industrialisierung ad absurdum. "Wir geben 180 Milliarden für Rohstoff- und 500 Milliarden Euro für Energieimporte aus, sind uns aber zu nobel, selber Schiefergas dort zu fördern, wo es ohne Schäden für die Umwelt möglich wäre", kritisiert Rübig.
Warum es trotz etlicher Fusionen nie zum Abbau von Überkapazitäten gekommen ist, könnte laut Insidern noch andere Gründe haben. So hat etwa 2006 der indische Mittal-Konzern Arcelor übernommen - einen Zusammenschluss von luxemburgischen, spanischen und französischen Unternehmen. Die Fusion zum weltgrößten Stahlkonzern sei nur akzeptiert worden, weil zugleich langjährige Bestandsgarantien abgegeben wurden, heißt es. Deshalb würden nun verlustträchtige Werke mitgeschleppt. Auch über versteckte Subventionen und Förderungen in der Branche wird gemunkelt. Was das Leben für alle schwer mache. An den rückläufigen Beschäftigungszahlen ändern die Politinterventionen ohnehin nichts. 1970 gab es in Europa eine Million Stahlarbeiter. Vor der Krise, 2008, waren es 416.000 Menschen. Aktuell finden gerade noch 369.000 in der Branche einen Job. Je länger kaputte Werke mitgeschleppt werden, umso größer der langfristige Schaden, lautet die Sorge. Würde die Branche den Abbau von Kapazitäten unter sich ausmachen, wären das illegale Absprachen - sie käme mit den Kartellregeln in Konflikt.
Ein Modell, das deshalb kolportiert wird: Brüssel soll vermittelnd auf die Nationalstaaten einwirken. Würde das Wegfallen der Arbeitsplätze sozial abgefedert und kompensiert, wäre auch der Widerstand dagegen geringer.