Wer die Geschichte Berlins vom Anfang bis zur Reichsgründung in nur zehn Minuten kennenlernen will, statte sich mit einem Fernglas aus und schlendere einmal rund ums Rote Rathaus.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 15 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Passend zu den Parteifarben der derzeitigen Stadtväter heißt ihr Sitz in dem imposanten Neurenaissance-Bau im Zentrum Berlins "Rotes Rathaus". Diesen Namen trägt die in der Mitte des 19. Jahrhunderts errichtete Riesenanlage allerdings wegen seiner typisch norddeutschen Klinkerarchitektur, die bei Sonnenlicht mit ihrem fast hundert Meter hohen Turm in leuchtendem Rot über die Innenstadt strahlt.
Erhebt man den Blick auf die reich mit Figuren und Ornamenten geschmückte Fassade, entdeckt man an den Balkonen des ersten Obergeschoßes einen Fries aus roten Tontafeln. Auf diesen Halbreliefs ist die damals rund 600-jährige Geschichte Berlins in 36 Szenen dargestellt, die sich wie ein Band rund um das Rathaus schlingen.
Das Gebäude stand schon zehn Jahre, als der Fries nachträglich angebracht wurde. Deshalb konnte die "Steinerne Chronik" Berlins ein Ereignis aufnehmen, das zur Zeit des Neubaues noch gar nicht stattgefunden hatte: Die Bismarck´sche Reichsgründung 1870/71. Sie bildet auch den Schlusspunkt der Geschichte, die auf dem Fries erzählt wird.
Vier Künstler gestalteten den Fries in neoklassischem Stil: Ludwig Gustav Eduard Brodwolf, Alexander Ludovico Calandrelli, Karl Ludwig Otto Geyer und Rudolf Schweinitz. Jeder hatte eine der vier Fronten übernommen.
Den Rundgang beginnen wir auf der "Rückseite", also dem Hauptportal gegenüber. Die Tafel "Christianisierung" zeigt einen Mönch, der einen Slawen tauft. Am linken Rand ist als Zeichen der gewaltsamen Unterwerfung der Slawen die umgeworfene Kultsäule eines Slawengottes zu sehen, auf die ein deutscher Ritter seinen Fuß gesetzt hat.
Die Mark - das ist der Boden, auf dem Berlin entstanden ist - ist entweder sandig oder sumpfig. Eine zweite Tafel zeigt, wie mühsam die Urbarmachung der Mark im 13. Jahrhundert gewesen sein muss. Doch mit der Nutzung des reichlich vorhandenen Wassers, der Windkraft und des Rindes als Zugtier entwickelte sich so manches Dorf überraschend schnell zu einer selbständigen Stadt mit eigenen Rechten, so auch Berlin. Auf dem Relief sieht man den stolzen Ratsherrn mit Amtskette; er hält eine Schriftrolle mit Siegel, darauf die Inschrift "Stadtrecht Berlin".
Häusliche Alltagsszenen zeigt das erste Relief um die Ecke: Großmutter am Spinnrad, Kleinkind lernt Gehen, der von der Arbeit heimkehrende Familienvater wird von Weib und Hund begrüßt, der Tisch wird gedeckt und der Großvater hilft dem Enkel beim Lernen. Die weiteren drei Tafeln befassen sich mit dunkleren Seiten des mittelalterlichen Lebens: einem an den Pranger Geketteten, einer Gerichtsszene und einem Raubüberfall.
Und so geht es weiter im Parforceritt durch die Stadtgeschichte mit Bildern aus dem Handwerk, dem Wochenmarkt, der Schifffahrt, dem Leben in der Kirche oder im Wirtshaus, dem Raubritter-Unwesen, dem Ablasshandel und so weiter.
Eine Tafel ist der Einwanderung der Hugenotten gegen Ende des 17. Jahrhunderts gewidmet, die der religiösen Verfolgung in Frankreich entflohen waren und nun die Bevölkerungszahl Berlins um ein Drittel erhöhten. Davon zeugen noch heute zahlreiche Familiennamen wie Boucsein, de Maiziere oder Begas.
Beendet wird der Rundgang, wie gesagt, mit der nationalen Vereinigung Deutschlands, durch die Berlin zur Reichshauptstadt wurde.
Neun Terrakottatafeln sind im Zweiten Weltkrieg zerstört worden. Acht davon konnten in den Fünfzigerjahren nach Bildvorlagen restauriert werden. So erzählt selbst das fehlende Bild ein Stück Berliner Geschichte.