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Die Stiche ins Herz von Madrid

Von Manuel Meyer und Christa Karas

Politik

"Blut, so viel Blut, überall war Blut." Enrique Sanchez, Rettungsfahrer seit 20 Jahren, konnte noch später kaum in Worte fassen, womit er Donnerstag früh im Madrider Zentralbahnhof konfrontiert war: "Diese vielen Menschen mit Gesichtsverletzungen jeglicher Art, mit abgerissenen Armen, Beinen, Händen, mit Knochenbrüchen und schreiend im Schock." Für die Rettungskräfte war es ein Einsatz, der alle Horrorvorstellungen weit übertraf. "Man kann dieses Chaos nicht beschreiben, es ist unfassbar. Und wir alle sind wie paralysiert", schilderte eine Augenzeugin jene Szenen nach den Bombenanschlägen, die Madrid als tiefe Stiche ins Herz trafen.


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Züge, aufgerissen wie Dosen, Tote wie Kleiderbündel in Haufen, abgetrennte Gliedmaßen überall verstreut, Blut, Schreie und Tränen, das Nerven zerfetzende Heulen hunderter Sirenen, Angehörige, die bewusstlos zusammenbrachen, "ein Szenario wie auf einem Schlachtfeld", so der meist geäußerte Vergleich der Augenzeugen. - Aber auf der anderen Seite auch: Grenzenlose Hilfsbereitschaft nach dem ersten, lähmenden Schock, Freiwillige, die mit anpackten, wo immer sie nur konnten, die nicht vor dem Grauen und Blut zurück schreckten, die erste Hilfe leisteten, Verletzte bargen und in die Spitäler brachten.

Madrid, Donnerstag früh

Für die APA berichtete der Augenzeuge Manuel Meyer am Donnerstag Vormittag aktuell und unter dem Eindruck der verheerenden Geschehnisse:

Schreiend laufen die Menschen aus dem Madrider Zentralbahnhof heraus. Sie werfen sich auf den Bürgersteig, auf die Straße. Die Rettungssanitäter wissen kaum noch, wem sie zuerst helfen sollen. Viele liegen blutüberströmt auf dem Boden. "Es gab weder die übliche Vorwarnung, noch handelt es sich hier um gezielte Attentate gegen Politiker oder Militärs. Die wollten ein Blutbad anrichten", erklärt ein Polizist.

Benommen liegt die 40-Jährige Nieves auf dem Bürgersteig der Straße Mendez Alvaro. Sie hat eine Platzwunde am Kopf, Glassplitter im Bein. Das Blut hat ihre helle Jacke rot gefärbt. Wie jeden Morgen wollte sie den aus Alcalá de Henares kommenden Nahverkehrszug nehmen, um zur Arbeit zu fahren. Plötzlich gab es eine gewaltige Explosion. "Ich ging zu Boden. Es tat fürchterlich weh", erklärt die Büroangestellte. "Wir mussten über Leichen steigen, um aus dem Wagon zu kommen", zittert Nieves. Ein Rettungshelfer versucht sie zu beruhigen, während immer mehr Verletzte sich über die Gleise auf die parallel verlaufende Hauptverkehrsstraße schleppen.

Auf dem ganzen Bürgersteig verteilt liegen Dutzende verletzter Personen, die gerade auf dem Weg zur Arbeit waren, als offenbar die baskische Terrororganisation ETA in drei verschiedenen Nahverkehrszüge fast hintereinander zwischen 7.35 Uhr und 7.55 Uhr Sprengsätze zündete. Der Zug war kurz davor, in den Atocha-Bahnhof einzufahren, als der Sprengsatz fünf Waggons vollkommen zerstörte. Es ist einer der größten Verkehrsknotenpunkte Madrids mit mehreren Haltestellen der U- und S-Bahnen sowie der Fernzüge.

Es sind zu wenig Rettungshelfer am Ort. Es herrscht absolutes Chaos. Freiwillige Helfer benutzten Decken, Mäntel und sogar Zugteile als Bahren, um Tote und Verwundete aus den Zugabteilen zu bergen. Die naheliegenden Hospitäler Doce de Octubre und Gregorio Maracon sind im Ausnahmezustand. Viele Verletzte müssen bereits in den Warteräumen behandelt werden, weil kein Operationssaal mehr frei ist. Dutzende verletzter Menschen schweben noch in Lebensgefahr. Und von Minute zu Minute muss die Polizei mehr Todesopfer vermelden. Im Radio rufen Krankenhaussprecher dringend zu Blutspenden auf. In ganz Madrid funktionieren die Handys nicht mehr. Zu viele Menschen rufen panikartig Freunde und Verwandte an.

Keine zwei Kilometer stadtauswärts gleichen sich die Szenen. Auf den Bahnhöfen El Pozo und Santa Eugenia im Südosten der Stadt detonierten zeitgleich Sprengsätze. "Es war schlimm. Ich hatte furchtbare Angst. Die Menschen um mich herum schrien. Viele bluteten oder waren unter den Metallplatten verschüttet", erklärt die 17-Jährige Elvira im Radio. Wie viele andere Kinder und Jugendliche war auch sie auf dem Weg zur Schule, die sich genau gegenüber der Station El Pozo befindet. Die Turnhalle der Schule hat sich mittlerweile in ein Lazarett verwandelt.

Verdächtige Flugzettel verweisen auf die ETA

Unterdessen galt die ETA als Schuldige ausgemacht. Der Verdacht gegen sie wurde durch rätselhafte Flugzettel genährt, die zwei Unbekannte am Mittwoch in San Sebastian im Baskenland verstreut hatten. "1.-14. März. Die Interessen der Spanier sind die Zielscheibe. Sabotage der RENFE (!!!)", also der spanischen Eisenbahn, war auf den Zetteln (siehe Bild) zu lesen. Die Polizei startete Donnerstag eine Intensivfahndung nach diesen beiden Männern, die Grenzkontrollen wurden verschärft.