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Die Stille der Anarchie

Von Markus Vorzellner

Reflexionen
John Cage (5.9. 1912 - 12. 8. 1992).
© © Richard Schulman/CORBIS

Vor 100 Jahren wurde der Komponist und Musiktheoretiker John Cage geboren, dem die Avantgarde des 20. Jahrhunderts entscheidende Anregungen zu verdanken hat.


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Zeit: Mai 1988; Ort: Mozart-Saal des Wiener Konzerthauses. Ein Abend für und mit John Cage war zu Ende gegangen. Eine Menschenschlange hatte sich vor dem anwesenden Komponisten gebildet in der Hoffnung, einen kurzen Dialog mit John Cage führen zu können. Endlich kam die Reihe an einen Studenten der seinerzeitigen Wiener Musikhochschule. Er kramte sein Wissen über die geistige Welt des John Cage zusammen und stellte die Frage, ob es denn stimme, dass bei seiner Musik die Umweltgeräusche, die die klangliche Realisierung seiner Partituren begleiten würden, akzidentieller Bestandteil ebendieser Musik wären. Der Komponist setzte sein bekanntes Grinsen auf und antwortete: "Maybe, but this is a concert hall".

Da ich mich ein wenig mit Buddhismus beschäftigt hatte, konnte ich diese Antwort mit einem dankbaren Lächeln quittieren und das Feld für den nächsten Fragesteller räumen, der wohl mit einer ähnlichen Antwort zu rechnen hatte. Das Konzert erschien so dahin gehend verlängert, als die Offenheit und Unbestimmtheit des Cageschen Werkes sich im Dialog mit ihm fortsetzte. Ein solcher erschien dem Individualisten Cage zusehends wichtiger als sein Schaffen, in welchem er Kommunikation als sekundären oder gar tertiären Parameter wertet.

Leben gegen den Strom

Schon früh macht sich der Außenseiter bemerkbar: Ein Literaturstudium in Claremont quittiert er nach zwei Jahren, weil, wie er in einem Vortrag von 1989 sagt, "ich . . . schockiert war, einhundert meiner Mitstudenten ein und dasselbe Buch lesen zu sehen. Anstatt es ihnen gleichzutun, ging ich ins Magazin und las das erste Buch, das von einem Autor, dessen Namen mit Z begann, geschrieben war. Ich bekam die beste Note im Kurs. Das brachte mich zu der Überzeugung, dass die Institution nicht sinnvoll orientiert sei. Also ging ich."

In Paris studiert er ab 1930 die Beschaffenheit griechischer Baukunst unter der Anleitung jenes Ernö Goldfinger, der in seinem architektonischen Werk die größtmögliche Diskrepanz zu ionischer, dorischer und korinthischer Kunst aufweist. Trotz dieser widersprüchlichen Zugangsweise hält es Cage dort nicht lange, weil sein Lehrer einmal nebenbei fallen ließ: "Um Architekt zu sein, muss man sein ganzes Leben der Architektur widmen." Cage hört diesen Satz zufällig. Die Stringenz, die das nachweisliche Vorbild für Ian Flemings Bond-Gegenspieler Auric Goldfinger an den Tag legt, lässt den Suchenden nun seine Bestimmung in der Musik finden, für deren verschiedene Ausprägungen er sich schon seit längerer Zeit interessiert. In diesem Bereich jedoch stellt er sich einer lebenslangen Konsequenz und erreicht, dass Arnold Schönberg ihn in Los Angeles unterrichtet. Unstimmigkeiten zwischen beiden Persönlichkeiten bleiben nicht aus. In seinem Vortrag lässt Cage Schönberg sagen: "Sie werden an eine Wand stoßen und nicht durch sie hindurchgehen können". Seine Antwort legt den konsequenten Kern seiner immerwährenden Suche frei: "Dann werde ich mein Leben lang mit dem Kopf gegen diese Wand anrennen."

Die Wand als Sinnbild

Es scheint, als ob die Metapher der Wand für John Cage als dialektisches Sinnbild seines gesamten künstlerischen Lebens fungiert: Den Wänden, die er niederreißt, indem der Musiker die vorgegebenen Anweisungen mit der größtmöglichen Freiheit unter Aufbietung seiner bestmöglichen musikalischen Individualität zu realisieren hat, stehen jene Wände gegenüber, die solche Musiker errichten, die mit Cages Freiheit nichts anfangen können.

Die von Cage gewährte und eingeforderte Freiheit des Interpreten mündet bei ihm in die letztmögliche logische Konsequenz: Sein "Concerto for Piano and Orchestra" von 1957 weist Stimmen für den Pianisten und ihn begleitende Instrumentalisten auf, sowie eine Anleitung für den Dirigenten, die von diesem aber nicht die konventionelle Funktion des Koordinierens verlangt, sondern ein Kreisen der Arme zum Anzeigen der während der Aufführung verstreichenden Zeit. Diese Praxis wird Cage später mit dem Terminus der Indeterminacy, "Unbestimmtheit" versehen - die in ihrem Ergebnis nicht vorhersehbare Konfrontation eines oder mehrerer Musiker mit ihrer kreativen Individualität. Dabei soll im Idealfall eine Interaktion entstehen, die ihrerseits jedoch keineswegs auf ein Aufgeben der Individualität zielt. Um den Komponisten Peter Gena zu zitieren: "Er strebte Freiheit an, aber nur unter der Voraussetzung rigoroser Disziplin." Diese Disziplin, die Cage an sich selbst ebenso stellt, erlaubt es ihm, die Besetzung dieses Werkes durch die Interpreten individuell verändern zu lassen, selbst unter Aussparung des sogenannten Solo-Instrumentes; und sie ermöglicht es ihm in letzter Konsequenz, das Klavierkonzert überhaupt nicht aufgeführt zu wissen - die Nichtaufführung als eine mögliche Interpretation!

Kritik statt Dekadenz

Es ist in keinem Augenblick zu befürchten, dass Cage, in seiner Selbstdefinition als Anarchist, in jenes Nichts zu kippen droht, vor dem Friedrich Nietzsche warnt. Die Entwertung des irdischen Lebens durch jenseitige Heilsversprechungen, die uns Nietzsche im "Antichrist" vorstellt, kann Cage deswegen nicht berühren, weil der Anarchist des 19. Jahrhunderts, den Nietzsche als "décadent" sieht und dem Christen gleichstellt, den Gegenpol jenes Individuums darstellt, das herrschende Ton- und Strukturbezüge bei seinem eigenen Schaffen hinterfragt und diese Fragestellungen des Weiteren auch auf die Politik übertragen will. (Dass man in Bezug auf Cages Politikverständnis durchaus von Scheuklappen reden kann, bezeugt etwa sein Eintreten für Mao, sowie sein Auftreten beim Shiraz-Kunstfestival im Iran zu einer Zeit, als das Schah-Regime und dessen Geheimdienst SAVAK politische Morde zu verantworten hatten.)

Mag man auch diese Umstände als Salzkorn innerhalb des Cageschen Denkens ansehen, sein Verständnis von Nichts geht nicht in Richtung Destruktion, sondern sieht es als Keim für alles Existierende. Seine 1961 erschienene "Lecture on nothing" bringt die Sache auf den Punkt: Das Nichts trägt alle Substanz in sich, die jedes bewusste Hinhören erst ermöglicht. Das Nichts bringt aber auch jene Eigenschaft zutage, ohne die Musik in ihrer Polarität nicht denkbar wäre: Stille.

Es ist jedoch nicht die Ruhe des Todes, nicht das Grab, das "Herz und Wünsche" bedeckt, wie der Dichter und Schubert-Freund Joseph Kenner schrieb, sondern die Stille in all ihrer Potentialität.

Derart unterzieht sich auch dieses Prinzip bei Cage einem Entwicklungsprozess, der ihm jede Absolutheit raubt, weil Stille für Cage ohnehin niemals in platonisch reiner Form zur Debatte stand. Sein 1952 geschriebenes 4‘33‘ sieht ein Schweigen aller vorgesehenen Instrumente für exakt diesen Zeitraum vor, welches das Hin-Hören auf all das, was sonst in oberflächlicher Wahrnehmung untergeht, überhaupt erst ermöglicht; die Stille des John Cage ist in jedem Fall ein ewig Fließendes im Sinne Heraklits, das in jedem Moment eine andere Gestalt annimmt. Diese Indifferenz meint Cage wohl, wenn er in einem Interview sagt: "If you listen to Mozart or Beethoven you see that there is always the same but if fou listen to traffic you see it’s always different."

Es mag zu einem Teil dem Provokationsdrang des selbsternannten Anarchisten geschuldet sein, dass Mao als weitblickender Reformator vor uns steht, oder dass Cage den Verkehrslärm der Musik Mozarts und Beethovens vorzieht. Vielleicht könnte auch der Umstand, dass er 1992 die Teilnahme an einem Seminar der Wiener Musikhochschule zugesagt hatte, jedoch kurz vor Beginn starb, eine letzte Tat des Anarchisten sein - "This space of time is organized."

Die Frage, was uns von John Cage bleiben würde, hätte ihn nur bedingt beschäftigt. Vielleicht ist es nur ein dankbares Lächeln, das wir ihm für seine Denkanstöße zuwerfen können.

Markus Vorzellner lebt als Pianist, mit dem Schwerpunkt Liedbegleitung, und als Musikpublizist und Pädagoge in Wien. www.vorzellner.at