)
In der Ukraine lässt die Wirtschaftsmisere weite Teile der Bevölkerung ins Elend schlittern.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 9 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Kiew. "Meine Frau und ich, wir haben immer von einem schönen, großen Auto geträumt", sagt Maksim Zacharow und lehnt sich an seinen schwarzen Lexus. Er habe den SUV vor vier Jahren gebraucht gekauft, aber sei richtig stolz gewesen, als er ihn abgeholt hat. Der 40-jährige Ukrainer hatte die Jahre davor von seiner kleinen Autowerkstatt in Charkiw gut leben können, auch die Krise 2008 habe seinem Geschäft nur einen kurzen Einbruch beschert. Jetzt aber hat er nichts anderes mehr im Kopf, als sein geliebtes Auto loszuwerden. "Es wird Zeit, auf etwas Bescheideneres umzusteigen", sagt er.
Reichte das Geld bei Maksim früher für immer mehr Annehmlichkeiten - sei es ein neues Smartphone, Tablet oder auch ein Motorrad -, so schwingt sich der Ukrainer heute immer öfter auf das Rad seiner Frau. Er, der früher, wie er sagt, so gerne mit lauter Musik und geöffneten Fenstern durch das Zentrum fuhr, gibt heute unumwunden zu, dass er sich das Benzin nicht mehr leisten kann. Er verdiene heute ein Viertel der Summe, die er vor der Revolution einnahm.
Wie Maksim geht es heute immer mehr Ukrainern. Die Wirtschaftsmisere als Folge des bewaffneten Konflikts im Osten des Landes nagt an der finanziellen Situation weiter Teile der Bevölkerung. Die Reallöhne sinken, die Währung Griwen ist um die Hälfte eingebrochen, das verteuert den Import massiv und lässt die Inflation in die Höhe schnellen. Die Wirtschaft schrumpfte im ersten Quartal um 17,6 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum, gab die nationale Statistikbehörde am Freitag bekannt. Die wenigsten Ukrainer haben Ersparnisse angehäuft. Langsam, aber stetig, frisst sich die Armut nun in die Mittelschicht. 40 Prozent der Ukrainer gaben kürzlich in einer Umfrage an, sich arm zu fühlen.
Betretenes Schweigenbeim Thema Armut
Maksim ist aber die Ausnahme, wenn es darum geht, über den sozialen Abstieg offen zu sprechen. Viele Ukrainer schämen sich ihrer Lage, versuchen sie zu verbergen, so gut es geht. Über die wachsende Armut spricht auch die Führung in Kiew nur ungern, tönen doch kriegerische Worte und Reformvorhaben viel lauter. Nur über Hintertüren gelangt man zu Einschätzungen der Regierung und offizielle Zahlen über die aktuelle Entwicklung. So wurden etwa gleichzeitig mit den neuen Zahlscheinen für Gas, Wasser und Strom in den vergangenen Wochen Formulare versandt, mithilfe derer Menschen mit geringem Einkommen Unterstützung zur Bezahlung der Kommunalabgaben beantragen können.
"Gleichzeitig hieß es, dass 60 Prozent der Bevölkerung um diese Subventionen ansuchen können", sagt Anastasija Rjabtschuk, Expertin für Armut und soziale Fragen an der Universität Johannesburg, die sich gerade in Kiew aufhält. "Ich weiß nicht, woher die Regierung diese Ziffer nahm, aber wenn sie stimmt, ist das doch eine sehr aufschlussreiche Zahl darüber, wie viel Prozent der Bevölkerung Hilfe brauchen, um Gas, Strom und Wasser zahlen zu können."
Rjabtschuk verweist auch auf Aussagen der Regierung rund um die geplante Einführung von Steuern auf Pensionen. Diese sollen jene Pensionsempfänger zahlen, die mehr als 3000 Griwen (126 Euro) Pension erhalten. "Gleich nach der Ankündigung des Vorhabens wurde von Premier Arsenij Jazenjuk eingeworfen, das betreffe ohnehin nur drei Prozent der ukrainischen Pensionen." Die Mindestpension liegt heute bei 1330 Griwen, das sind 56 Euro. Die meisten Pensionisten geben an, rund 900 Griwen seien seit der Erhöhung der Preise für Gas, Strom und Wasser fällig.
Den größten Anteil der Armen in der Ukraine macht heute die Kategorie der wirtschaftlich Inaktiven aus, sagt Rjabtschuk - etwa Pensionisten oder Invalide. Danach folgen die sogenannten "working poor", also jene, die zwar Arbeit haben, aber nur minimale Bezahlung dafür erhalten. "In der Ukraine sind das vor allem Lehrer und Ärzte sowie weiteres medizinisches Personal", sagt Rjabtschuk. Dass so viele Menschen trotz Arbeit arm sind, liege auch daran, dass der Minimallohn in der Ukraine extrem niedrig sei. Laut Finanzministerium liegt er bei 1378 Griwen monatlich für 2015. Das sind 73 Euro.
Korruption verschlingt viele Mittel für Sozialbereich
Dabei sollten eigentlich Mittel zur Unterstützung vorhanden sein. Gemessen am Anteil des ukrainischen Bruttoinlandsproduktes sind laut Rjabtschuk die Ausgaben für Soziales in der Ukraine vergleichbar mit der Höhe der Ausgaben europäischer Staaten. "Aufgrund der hohen Korruption aber weiß kein Mensch, wohin dieses Geld verschwindet", sagt die Expertin. Im Gesundheitsbereich versickere etwa viel beim staatlichen Kauf von Medikamenten, anderes komme in Form von riesigen Plasma-Fernsehern in Krankenhäusern wieder zum Vorschein. Neue Ministerialarbeiter hätten gar fix fertig eingebaute Badezimmer mit Waschmaschinen in ihren Arbeitszimmern vorgefunden.
Kriminalität steigt, gleich wie Nachfrage bei Essensausgaben
Dass Maksim den Weg zu seiner Werkstatt nun auf dem Rad seiner Frau bestreitet, hat aber auch einen anderen Grund. Sein eigenes Rad wurde kürzlich gestohlen. Dabei wohnt er im obersten Stock eines Plattenbaus und hatte es dort an das Stiegengeländer gekettet. Wie Maksim beklagen viele Ukrainer, dass die Kriminalität massiv gestiegen sei. Manche machen dafür die schlechte Wirtschaftslage verantwortlich, andere aber beschuldigen offen Flüchtlinge aus der Donbass-Region.
Maksim spinnt jeden Tag Pläne, wie er seine Lage verbessern könnte. Nachdem der Sommer im Vorjahr schon zäh gewesen sei, hatte er sich entschlossen, mit seiner Frau und seinem zweijährigen Kind nach Moskau zu gehen und es dort mit einer Autowerkstatt zu versuchen. Es habe aber nicht geklappt, nach sieben Monaten kehrten sie wieder zurück, auch weil sie in Charkiw wenigstens keine Miete zahlen müssten. "Dort bin ich doch auch ein Fremder", sagt er. Ein Freund versuche ihn nun zu überzeugen, dass sie es in Polen versuchen sollten. Maksim ist von der Idee aber nicht angetan. "Ich habe doch keine Ausbildung", sagt er. "Dort werden doch nur Facharbeiter gesucht, einen wie mich braucht man dort nicht."
Einen großen Teil seines Geldes gibt Maksim nun für Nahrungsmittel aus. Bei immer mehr Ukrainern reicht aber nicht einmal mehr dafür das Geld. "In den vergangen sechs Monaten ist die Anzahl der Pensionisten, die sich an uns wenden, um gut 40 Prozent gestiegen", sagt Olena Polischtschuk, Präsidentin des Wohltätigkeitsvereins "Sozialne Partnerstwo", der unter anderem eine Ausspeisung in Kiew betreibt. Gegründet wurde der Verein eigentlich als Hilfe für Obdachlose, hinter ihm steht der ehemalige Bürgermeister von Kiew, Leonid Tschernowetzkij. Mittlerweile aber seien mehr als ein Drittel der Hilfesuchenden Pensionisten, sei es, um eine warme Mahlzeit zu erhalten, sei es, um Bettwäsche zu waschen oder medizinische Leistungen in Anspruch zu nehmen. "Wenn Pensionisten heute keine Kinder haben, die sie unterstützen können, können sie nicht überleben", sagt Polischtschuk.
Mit der Krise im Land habe sich auch das Spendenaufkommen geändert. Der Verein erhalte heute etwas mehr Spenden von Einzelpersonen als früher. Für Obdachlose aber spende heute kaum jemand mehr. Die Geber wollen ihr Geld Projekten für verwundete Soldaten und Flüchtlingen aus dem Osten zukommen lassen.
Ukrainischen Politanalysten bereitet die steigende Armut aus einem anderen Grund Sorgen. Sie sei eine große Gefahr für den politischen Reformkurs der Regierung. Noch, ist in Kommentaren zu lesen, seien die Kritiker des Reformkurses der Regierung in der Minderzahl. Aber wie lange, sei offen.
Offen ist auch für Maksim, wie es weitergeht. Zumal er noch keinen einzigen Interessenten für sein teures Auto ausmachen konnte. Bis auf weiteres wird er sich wohl in einer ukrainischen Tugend üben: der Improvisation. Seine Frau, die bisher schweigend seinen Erzählungen folgte, zuckt mit den Schultern. Und zitiert ein Sprichwort: "Irgendwann kommt auch unser Tag."