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"Die Strategie des Sparens funktionierte schlicht nicht"

Von WZ-Korrespondentin Martyna Czarnowska

Politik

Der Gewerkschafter Luca Visentini begrüßt den EU-Investitionsplan - und ist skeptisch.


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"Wiener Zeitung": Streiks in Italien, Frankreich, Belgien - wie groß kann die Hoffnung der Gewerkschaften auf einen wirtschaftlichen Kurswechsel überhaupt noch sein, wenn die Regierungen von ihren Sparmaßnahmen nicht abrücken wollen oder dürfen?Luca Visentini: Es sind nicht die ersten Streiks seit Beginn der Krise. Aber nun ist ein kritischer Zeitpunkt gekommen, an dem Änderungen erreicht werden müssen. In den letzten fünf Jahren hat die EU einen falschen Weg gewählt, um die Krise zu bekämpfen. Sie hat sich aufs Sparen konzentriert. Der ideologische Ansatz, vor allem einiger Mitgliedstaaten, war ein neoliberaler. Als Problem wurde nicht die Krise, nicht die Finanzspekulation, sondern die öffentliche Verschuldung gesehen. Dabei wurde vergessen, was der Grund dafür war: dass Banken gerettet wurden.

Ist Sorglosigkeit in der Verschuldung denn die Lösung des Problems?

Darum geht es nicht. Doch ist es umgekehrt nicht möglich, Schulden abzubauen, wenn die Wirtschaft nicht wächst. Sparen ohne Investitionen ist kein Mittel gegen die Rezession. Trotz aller Kürzungen sind etwa die Arbeitslosenraten nicht gesunken. Die Strategie funktionierte schlicht nicht. Trotzdem haben Länder mit Überschüssen Druck auf verschuldete Staaten gemacht. Dabei haben diese das wirtschaftliche Ungleichgewicht nicht allein zu verantworten. Auf ihre Kosten haben nämlich die anderen ihre Überschüsse geschaffen - etwa durch Exporte. Für die Ankurbelung der Wirtschaft wollen sie aber nicht zuständig sein. Das ist das, was der Internationale Währungsfonds oder die US-Regierung an Deutschland beispielsweise kritisiert. Sie sagen den Deutschen: Ihr müsst mehr investieren, die Löhne erhöhen, den Konsum fördern.

Nun soll ja europaweit investiert werden. Die EU-Kommission hat dazu ein Programm angekündigt, bei dem mit 21 Milliarden bis zu 315 Milliarden Euro generiert werden sollen. Glauben Sie daran?

Das ist ein Märchen für Kinder. Von den 21 Milliarden Euro, die in den Investitionsfonds fließen sollen, sind nur ein paar Milliarden Euro frisches Geld. Der Rest kommt aus bestehenden Töpfen des EU-Budgets. Und das soll dann die fünfzehnfache Summe bringen?

Die Europäische Investitionsbank meint, dass dies möglich ist. Das habe sie schon in ihrer bisherigen Geschäftstätigkeit gezeigt...

Wenn es funktioniert, dann werden wir zufrieden sein. Wir sind es schon jetzt, allein weil überhaupt von einem Investitionsplan gesprochen wird, den die Mitgliedstaaten unterstützen. Doch gleichzeitig wollen sie nicht dafür zahlen. Wir glauben außerdem nicht, dass die 315 Milliarden Euro ausreichend sein würden. Dennoch begrüßen wir den Vorschlag samt der Ankündigung, dass die Ausgaben der Länder für Investitionen nicht bei der Defizitberechnung berücksichtigt werden. Das ist ein Signal an die Märkte und ein Zeichen für die Flexibilisierung des Stabilitätspaktes.

Und ein Beitrag zur wirtschaftlichen Kursänderung?

Ja, aber uns genügt das nicht. Wir ringen noch mit zwei anderen Problemen. In den fünf Jahren der Krise wurden die industrielle Basis und der soziale Dialog beschädigt. Und die Löhne sind gesunken. Wir müssen die Gehälter zumindest in jenen Ländern anheben, wo es hohe Produktivität und Überschüsse gibt. Es ist ausschlaggebend, in Deutschland - aber auch in Österreich beispielsweise - die Binnennachfrage wieder anzukurbeln. Das ist neben Investitionen ebenso wichtig. Damit können Jobs geschaffen werden, und wir können wieder mehr soziale Gerechtigkeit erlangen.

Wie kann die gestärkt werden? Selbst wenn der Investitionsplan aufgeht, soll er dabei helfen, eine Million Arbeitsplätze zu schaffen. Aber fast 25 Millionen Europäer haben keinen Job. Gleichzeitig altern die Gesellschaften. Sind die Sozial-, die Pensionssysteme in ihrer bisherigen Form zu halten?

Wir müssen zunächst aus der Rezession rauskommen, dann können wir daran arbeiten. Wir müssen uns bewusst sein, dass es eine Alternative zu dem Modell der letzten Jahre gibt. Wenn Jobs geschaffen werden, können die Gehälter angehoben und die Binnennachfrage angekurbelt werden. Das erhöht wiederum die Steuereinnahmen und kann den Wohlfahrtsstaat stärken.

Weltweit ist die Entwicklung jedoch eine andere. Wie kann Europa da wettbewerbsfähig bleiben, im Vergleich zu den USA oder China?

Der Unterschied zwischen Gehältern in China und in Europa ist eins zu hundert. Selbst wenn wir auf achtzig runtergehen, werden wir dadurch nicht wettbewerbsfähiger. Doch die Lohnkosten machen nur einen geringen Prozentsatz der Kosten eines Produkts aus. Gehälter zu kürzen, löst das Problem also nicht. Die einzige Möglichkeit, mit China zu konkurrieren, ist über die Qualität des Produkts und über Innovation. Das sollte die Stärke der europäischen Wirtschaft sein.

Zur Person

Luca

Visentini

ist politischer Sekretär im Europäischen Gewerkschaftsbund. Der gebürtige Italiener studierte Philosophie und veröffentlichte auch Gedichtbände.