In der Ukraine hat Präsident Selenskyj Rückenwind: Die Wirtschaftsdaten des Landes sind überraschend gut. Nun soll eine Regierung aus Quereinsteigern liberale Reformen umsetzen.
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Kiew. Da war es wieder. Schon wieder. Das Versprechen, das den Ukrainern seit den räuberischen 1990er Jahren, als die Korruption in der Ex-Sowjetrepublik zum allgemeinen Brauch wurde, bereits so oft gegeben wurde. "In der neuen Regierung wird nicht mehr gestohlen", sagte Olexij Hontscharuk vor der Werchowna Rada, dem ukrainischen Parlament. Der 35-Jährige wurde vergangene Woche ebendort zum Ministerpräsidenten gewählt.
Er war nicht der erste Premier in Kiew, der hoch und heilig gelobte, nun werde der allgegenwärtigen Korruption der Kampf angesagt. Auch Hontscharuks Vorgänger Wolodymyr Hroisman und Arseni Jazenjuk hatten ähnlich klingende Versprechen abgegeben. Geändert hatte sich dann aber nur wenig. Die Schmiergelder flossen weiter, die Ukraine blieb - angesichts der enormen Belastung des Krieges in der Ostukraine ist das auch teilweise verständlich - der kranke Mann Osteuropas. Die Wirtschaftsleistung des Landes liegt deutlich unter der des Jahres 1990.
Dennoch keimt nun bei erstaunlich vielen Beobachtern inner- und außerhalb der Ukraine Hoffnung auf, dass sich das Land aus seiner trostlosen Lage befreien kann. Während weltweit die Angst vor einer neuen Rezession umgeht, zeigen die Wirtschaftsdaten in der Ukraine nämlich steil nach oben. Im zweiten Quartal expandierte die Wirtschaftsleistung um 4,6 Prozent auf Jahresbasis.
Bescheidener Jurist
Analysten erklären sich den unerwarteten Wachstumsschub mit dem Selenskyj-Effekt, also mit dem Optimismus, der in der Ukraine seit dem Wahlsieg des neuen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj Platz gegriffen hat. Der Umstand, dass Selenskyjs Partei "Diener des Volkes" bei den Parlamentswahlen die absolute Mehrheit geholt hat, könnte, so denken viele, die lähmenden Blockierungen des alten Kiewer Politsystems aus den Angeln heben und den Weg zu Reformen frei machen. Falls Selenskyj seine Machtfülle nicht zu Kopf steigt und er von ihr unrechtmäßigen Gebrauch macht.
Hontscharuk selbst - mit nur 35 Jahren der bisher jüngste Regierungschef der Ukraine - hat noch 2014 am Maidan Zelte aufgestellt. Der Jurist, der in einer Mietwohnung wohnt, ist nicht bekannt dafür, auf großem Fuß zu leben. Verbindungen zu Oligarchen soll es keine geben. Ein Polit-Profi ist Hontscharuk allerdings nicht. Das sollte er freilich auch nicht sein: Selenskyj hatte sich einen Premier gewünscht, der keine Verbindungen zur bisherigen ukrainischen Politik hat.
Das birgt aber auch Risiken. Hontscharuk verfügt über keine Führungserfahrung in Politik oder Wirtschaft. Er leitete bisher Rechtsabteilungen für Bau- und Investitionsfirmen und gründete eine NGO, die sich um betrogene Bauinvestoren kümmert. Insofern dürfte ihm zumindest eines der Hauptprobleme der Ukraine, die mangelnde Rechtssicherheit für Investoren, gut bekannt sein.
Minister mit EU-Hintergrund
Kritiker befürchten, dass der neue Premier und seine Minister - schon deshalb, weil es sich um Quereinsteiger handelt - nur Erfüllungsgehilfen Selenskyjs und seiner Berater sein werden. Technokraten, die die Vorgaben des Präsidenten umsetzen.
Erfahrung in der Politik haben jedenfalls nur wenige in der neuen Regierung. Etwa Arsen Awakow, Innenminister unter Selenskyjs Vorgänger Petro Poroschenko, der seinen Job behalten durfte. "Manche sind allerdings Experten, haben in Europa studiert oder mit europäischen Institutionen zusammengearbeitet. Sie haben oft eher einen europäischen als US-amerikanischen Hintergrund", sagt der ukrainische politische Publizist Juri Durkot der "Wiener Zeitung". Deshalb kommen aus Brüssel auch abwartend-positive Signale.
Dass Selenskyj und seine Berater erklärten, die verschleppte Privatisierung von Staatsbetrieben anzugehen und - nach einem langjährigen Moratorium - den Handel mit Ackerland zuzulassen, gibt vielen Investoren Hoffnung. Ob dann alles so klappt, wie man sich das vorgenommen hat, bleibt aber fraglich. Selenskyjs Partei ist eine Gruppierung von Polit-Amateuren. "Einige der Abgeordneten von ,Diener des Volkes‘ konnten vorige Woche den Namen des Premiers, den sie gewählt haben, nicht nennen", sagt Durkot.