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Die Stunde der Vernunft

Von Alexander von der Decken

Gastkommentare
Alexander von der Decken ist freier Journalist, Publizist und Schriftsteller. Er hat Philosophie und Romanistik studiert und in Barcelona und Paris gelebt.

Die deutsche Kanzlerin muss handeln und sich unmissverständlich der Bevölkerung und den Flüchtlingen erklären.


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Die politische Zukunft von Bundeskanzlerin Angela Merkel hängt vom Ge- oder Misslingen ihrer Flüchtlingspolitik ab. Ihre Umfragewerte sind im Keller, die Christemokratische Partei droht zum Opfer der "Wir schaffen das!"-Politik zu werden. Die Kanzlerin muss handeln. Sie muss Konzepte für eine Integration der Flüchtlinge auf den Tisch legen, sie muss der Bevölkerung ihre Ängste nehmen, sie muss sich unmissverständlich der Nation und den Neuankömmlingen in Deutschland erklären.

Es gilt, einen Ruck nach rechts zu verhindern, wie er sich in Europa am Horizont leider abzeichnet.

Merkels Erklärungsversuche haben keine Durchschlagskraft. Zwar hat sie recht, dass die Globalisierung
die Flüchtlingsströme mit ausgelöst hat. Aber der Ehrlichkeit halber hätte sie auch darauf hinweisen müssen, dass die Syrien-Politik der freien Welt ein Übriges dazu beigetragen hat, dass die Menschen ihrer Hölle entfliehen.

Es ist kein billiger Antiamerikanismus, darauf hinzuweisen, dass die "Destabilisierungspolitik" der USA in Syrien die jügste Völkerwanderung in Bewegung gesetzt hat. Ob im Irak, in Afghanistan oder in Libyen - die Pulverisierungsstrategie der USA und ihrer Verbündeten hat unendliches Leid über die Zivilbevölkerung gebracht.

Dass Russlands Führung aus geostrategischen Gründen das Leid der Menschen verlängert, macht es nicht besser. Nachdem der Frühling an der Arabischen Straße im religiösen Eiferertum verdörrt ist, soll die alte Ordnung im Bombenhagel stabilisiert werden. Eine Illusion.

Realität ist hingegen, dass das Instrument des Stellvertreterkriegs grausige Konsequenzen zeitigt. Der Nahe Osten steht vor einer Neuaufteilung in verschiedene Interessenssphären. Der Friede ist weiter entfernt denn je.

Der Journalist und Publizist Peter Scholl-Latour (1924 bis 2014) hat bereits im Jahr 1990 in seinem Buch "Das Schwert des Islam - Revolution im Namen Allahs" einen Religionskrieg ungeahnten Ausmaßes prognostiziert, der von Indonesien bis nach Marokko reichen könne. Die Lunte brennt seit Jahren.

Je länger Europa und die USA versuchen, ihren "Wertetransport" militärisch zu betreiben, umso größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass Scholl-Latours Prophezeiung sich erfüllt. Es ist das Absurde im Sinne des Philosophen Albert Camus (1913 bis 1960), dass die normative Kraft des Faktischen vom Misslingen lebt. Der Mensch weiß, aber er handelt gegen die Vernunft, indem er dem Fanatismus das Alibi-Zepter überreicht.

Religion kann ein todbringendes Gift sein, wenn sie die Massen ergreift. Der Philosoph Sören Kierkegaard (1813 bis 1855) hat erklärt, dass der Glaube vom Zweifel getragen werde, weil er den Sprung vom Wissen ins Nichtwissen fordere. Gott, in welcher Ausprägung auch immer, sei eine Imagination - das große X. Kierkegaard zufolge versucht der Mensch, etwas zu entdecken, das er nicht denken kann. Dieses absolut Absurde füttert die Angst.

Der Sprung ins Ungewisse ist ein Weg, sie zu überwinden, ein Leben ohne Gott zu führen der andere - beidem aber wohnt der Zweifel inne. Und genau dieser Zweifel verbindet und bietet die Chance der Toleranz vor dem Andersdenken. Ein Hoffnungsschimmer.