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Die Stunde der Wahrheit

Von Gerhard Lechner

Wissen

Es war absehbar, dass der Zweite Weltkrieg mit einer totalen Niederlage Deutschlands enden werde. Aber erst im Frühjahr des Jahres 1945 zerfiel das NS-Regime endgültig.


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Der Mai 1945 war lau und mild. "In den Ruinen von Berlin fangen die Blumen wieder an zu blühen", tönte es aus dem Radio. "Die durch das langjährige Hungern aufgeschobene Pubertät setzte ein. Ich wurde 14 und verliebte mich", erinnert sich ein KZ-Häftling, der überlebt hatte. In diesem Mai, vor 70 Jahren, war es endlich vorbei: das Sterben in den Konzentrationslagern des NS-Regimes, das Zittern der Zivilbevölkerung in den Bombennächten, die Todesangst an den Fronten, die Hinrichtungen in letzter Minute. Die Schrecken des Zweiten Weltkrieges, den das nationalsozialistische Deutschland entfesselt hatte, fanden - wenigstens in Europa - ein Ende.

Die Bilanz des sechsjährigen Waffenganges, an dem über 110 Millionen Soldaten beteiligt waren, war furchtbar: Zwischen 60 und 70 Millionen Menschen waren dem bisher größten Krieg der Weltgeschichte zum Opfer gefallen. Flächenbombardements hatten in bisher ungeahntem Ausmaß die Zivilbevölkerung ins Kriegsgeschehen mit einbezogen. Viele Städte des besiegten Deutschland glichen im Mai 1945 Trümmerwüsten.

Die totale Niederlage des Nazi-Imperiums war schon lange absehbar gewesen. Mit dem Angriff auf die Sowjetunion im Juni 1941 hatte Reichskanzler Adolf Hitler seinen Traum eines deutschen Großreichs trotz des noch laufenden Krieges gegen Großbritan-nien zu verwirklichen gesucht. Doch der Plan des "Führers", der der slawischen Bevölkerung in einem deutsch beherrschten Osteuropa die Rolle von Sklaven zugewiesen hatte, scheiterte: Mit der Niederlage vor Moskau und der verlorenen Schlacht von Stalingrad stieß der deutsche Eroberungswille an seine Grenzen.

Kampf bis ans Ende

Die Kriegserklärung an die künftige Weltmacht USA, deren industrielles Potenzial weit unterschätzt wurde, hatte Hitlers Schicksal bereits 1941 besiegelt. Der Diktator hielt sich aber an seinen Ausspruch, grundsätzlich immer erst fünf Minuten nach zwölf aufzuhören - und ließ bis zum Ende weiterkämpfen. In den deutschen Städten wüteten von britischen Bomben entfachte Feuerstürme, das Vernichtungsprogramm gegen die europäischen Juden lief bis zuletzt. Auch die Invasion der Westalliierten in der Normandie und deren rasche militärische Erfolge bewirkten keine Änderung der deutschen Politik.

Zu Beginn des Jahres 1945 stand der Zeiger aus deutscher Sicht bereits kurz vor zwölf: Die Mitte Dezember gestartete Ardennenoffensive an der Westfront, die die Alliierten kurzzeitig überraschen konnte, war zusammengebrochen. Die militärisch aussichtslose Offensive hatte zudem die Ostfront, die sich zu diesem Zeitpunkt noch an der Weichsel befand, entblößt. Die Zeit war reif für einen Großangriff der Roten Armee. Am 12. Jänner begannen die sowjetischen Truppen mit dem Sturm auf die Grenzen des deutschen Reiches. Hitlers ausgebrannte Truppen hatten dem Angriff der Sowjets nicht mehr viel entgegenzusetzen. Die Heeresgruppe A, die die Front an der Weichsel gehalten hatte, brach zusammen. Die sowjetischen Truppen überquerten die Reichsgrenze und standen Anfang Fe-bruar bereits an der Oder.

Während des Vormarsches aufs oberschlesische Industrierevier stießen die Sowjets auf das, was vom nationalsozialistischen Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau nach der Sprengung der Gaskammern und Krematorien und der Evakuierung der Häftlinge noch übrig war. Die Befreier fanden 370.000 Herrenanzüge, 837.000 Damenmäntel, Hausrat, Unmengen an Kinderkleidung, 44.000 Paar Schuhe und 7,7 Tonnen transportfertig verpacktes menschliches Haar. Sie stießen auf etwa 600 Leichen - und auf rund 7000 Häftlinge, die von der SS nicht mehr "evakuiert" werden konnten. Für sie schlug die Stunde der Befreiung.

Durchhalteparolen

Während sich so immer mehr das Ausmaß der Verbrechen des NS-Regimes vor der Welt enthüllte, drosch man in Berlin Durchhalteparolen. Hitler sprach in seiner Neujahrsansprache von "tausenden neuen Bataillonen", die aufgestellt seien - und davon, dass "der nationalsozialistische Staat in seiner Tatkraft" die zerstörten deutschen Städte nach dem Sieg binnen kürzester Zeit wieder aufbauen werde. Der Nimbus des Diktators hat durch die Niederlagen zwar gelitten, dennoch jubelten ihm immer noch viele Deutsche zu. Für den unglücklichen Kriegsverlauf wird von vielen die Umgebung Hitlers verantwortlich gemacht, nicht der Diktator selbst. Gläubige Nationalsozialistinnen steigerten sich in eine hysterische Hingabe zum "Führer" hinein. Viele Soldaten, die dem aussichtslosen Geschehen an der Front ausgeliefert waren, erwarteten sich noch Wundertaten von Hitler und hielten ihm die Treue.

Hitler setzte indessen seine letzten Reserven nicht zur Verteidigung der Reichshauptstadt, sondern Westungarns und Wiens ein - in diesem Raum befanden sich die letzten Erdölfelder, die noch unter deutscher Kontrolle waren. Die deutsche Luftwaffe besaß kaum noch Benzin, ihre Flugzeuge blieben am Boden. Doch die letzte deutsche Offensive im März 1945 scheiterte, die Rote Armee bewegte sich auch hier auf die Reichsgrenzen und auf Wien zu.

Für Hitler schlug somit die Stunde der Wahrheit. Amerikaner und Briten stießen Anfang April ins Herz Deutschlands vor, kesselten das Ruhrgebiet ein, rückten Richtung Elbe vor. Pläne, rasch auf Berlin vorzustoßen, wurden wieder aufgegeben: Der amerikanische General Dwight D. Eisenhower sah in der Reichshauptstadt kein militärisch wichtiges Ziel, befürchtete zudem eine hohe Zahl von Opfern im Häuserkampf. Engländer und Briten blieben an der Elbe stehen - es blieb den Sowjets vorbehalten, Berlin zu befreien. Für die Berliner, denen Propagandaminister Joseph Goebbels Berichte über Gräueltaten sowjetischer Soldaten an der deutschen Zivilbevölkerung im Osten des Reiches vorlegte, war das keine gute Nachricht.

Angst vor der Rache

Im Gegensatz zur zusammenbrechenden Westfront kämpften die deutschen Soldaten im Osten bis zuletzt mit vollem Einsatz. Ein Umstand, der auch mit dem ungefähren Wissen über die Verbrechen des NS-Regimes zu tun hatte. Bereits 1941 hatte Thomas Mann in der BBC das Ausgeliefertsein der Deutschen an die NS-Führer plastisch beschrieben: "Sie, die Euch zu all diesen Schandtaten verführt haben, sagen Euch: Nun habt Ihr sie begangen, nun seid Ihr unauflöslich an uns gekettet, nun müsst Ihr durchhalten bis aufs Letzte, sonst kommt die Hölle über Euch!"

Die Angst, dass die von der NS-Propaganda stets als "Untermenschen" bezeichneten Slawen für die Gräueltaten der deutschen Besatzer Rache üben könnten, ließ die Bevölkerung im Osten Deutschlands aus ihrer Heimat fliehen. Und diese Angst war berechtigt: Im eroberten deutschen Osten kam es zu Übergriffen, in Berlin wurden Frauen massenhaft von Rotarmisten vergewaltigt.

Manche Deutsche horteten zu Hause Gift, wollten sterben, ehe sie "in die Hand der Russen" fielen. Dennoch war die Furcht der Bevölkerung vor den "Bestien aus dem Osten", wie sie die Goebbels-Propaganda bezeichnete, übertrieben: Im Gegensatz zu Plänen der deutschen Führung im Osten, die für den Fall eines Sieges in ersten ernährungs- und bevölkerungspolitischen Planungen den Hungertod von mindestens zehn Millionen Russen vorgesehen haben, sorgten sich die Sowjets im eroberten Deutschland rasch um die Versorgung der Zivilbevölkerung.

Mit der Front rückte der Tod auch für Hitler immer näher. Im Jänner, nach der gescheiterten Ardennenoffensive, hatte sich der Diktator nach Berlin zurückgezogen, im März siedelte er endgültig in den Bunker unter der Reichskanzlei um. Deren gesamte Infrastruktur war in die Erde versenkt worden: Nachrichtenzentrale, Wachmannschaften, Ordonnanzen, Fuhrpark, Küche, Wäscherei, Sekretärinnen und der Sicherheitsdienst der SS. Dieselgeneratoren sorgten für Frischluft in dem Bunkersystem, in dem es stets etwas modrig nach feuchtem Beton roch. Das Kernstück des Komplexes, der "Führerbunker", war am besten gesichert und lag rund acht Meter unter der Erde.

Hier, im Zentrum Berlins, fällt schließlich der Vorhang für Hitler und sein "Tausendjähriges Reich", das nur zwölf Jahre dauerte. Am 16. April eröffnen 40.000 Geschütze und Granatwerfer das Feuer auf die deutschen Stellungen an der Oder. Nach ein paar Tagen brechen die Sowjets durch und stehen vor Berlin. Hitler nimmt am 20. April ein letztes Mal die Gratulationen seiner Sa-trapen zu seinem Geburtstag entgegen. Viele Paladine suchen Hitler zu überreden, die bedrohte Reichshauptstadt zu verlassen und sich in den Süden des Reiches - etwa nach Tirol - zu begeben, um von dort den weiteren Widerstand zu leiten. Von einer "Alpenfestung" ist die Rede.

Das Ende des Diktators

Doch Hitler lehnt ab. Der "Führer", der sich bis zuletzt mit seinen stadtplanerischen Entwürfen beschäftigt, der noch im April von einem Erfolg in Berlin, von einer Wende im Krieg träumt und der auf der Landkarte Armeen verschiebt, die gar nicht mehr existieren, zeigt sich urplötzlich realistisch: Er käme dabei doch nur wieder in einen anderen Kessel. Er wolle in Berlin bleiben.

Am Ende scheint das nackte Leben auch für Adolf Hitler, der Abermillionen in den Tod geschickt hat, noch Wert zu haben. Bis zuletzt zögert der Diktator seinen Tod hinaus. Erst als klar ist, dass das Regierungsviertel nicht mehr gehalten werden kann, geht Hitler mit seiner Geliebten Eva Braun, die er im letzten Moment heiratet, in den Tod. Die Leichen werden verbrannt. Seine Paladine setzen sich ab oder bringen sich um - wie Joseph Goebbels und seine Frau Magda. Sie vergiften vorher auch ihre sechs Kinder im Bunker der Reichskanzlei - weil es für sie keinen Wert habe, in "der Welt, die nach dem Führer kommt", zu leben. Viele überzeugte Nationalsozialisten tun es ihnen gleich - eine Selbstmordwelle geht durch Deutschland.

Für andere öffnet sich die Welt jedoch wie durch ein Wunder. "In uns ist immer wieder ein großes Erleichterungs- und Dankgefühl, dies Ungeheure (. . .) nun wirklich überlebt zu haben", schreibt der Philologe Victor Klemperer am Tag von Hitlers Selbstmord, dem 30. April 1945.

Klemperer, ein Deutscher jüdischer Herkunft, hatte den Schrecken überlebt. Der Bombenangriff vom 13. Februar, der Dresden auslöschte, war ihm zur Rettung geworden: Er konnte im allgemeinen Chaos den Schergen der Gestapo und damit der drohenden Deportation entkommen.

Gerhard Lechner, geboren 1976, Historiker und Politikwissenschafter, ist Redakteur bei der "Wiener Zeitung" ("europa@welt").