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Erdogan sieht offenbar die Stunde gekommen, das Militär als letzte Bastion seiner einst machtvollen innenpolitischen Gegner auszuschalten.
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Istanbul. Am Sonntag ließ Recep Tayyip Erdogan, Staatspräsident und Oberbefehlshaber der Streitkräfte der Türkei, seinen militärische Chefberater Albay Ali Yazici verhaften, weil er zu den Putschoffizieren gehört haben soll. Yazici hatte direkten Zugang zu Erdogan, er war oft in seiner Nähe, er hatte sicherlich Gelegenheiten, ihn umzubringen. Wie groß muss der Schock für den ohnehin von Verschwörungsängsten geplagten Präsidenten gewesen sein, als er sich über diese Gefahr nachträglich klar wurde. Bereits wenige Stunden nach dem Putsch kündigte Erdogan eine "Säuberung der Armee" an.
Gegen 103 Generäle wurden Haftbefehle ausgestellt, das sind ein Drittel aller Offiziere im Generals- oder Admiralsrang, insgesamt sollen 3000 Militärangehörige festgenommen worden sein. Etwas Vergleichbares hat es in der Türkei noch nicht gegeben. Zwar soll der Polizei eine Liste der Aufständischen in die Hände gefallen sein, die jedoch nur bis zu 400 Namen umfasst. Erdogan sieht offenbar die Stunde gekommen, das Militär als letzte Bastion seiner einst machtvollen innenpolitischen Gegner auszuschalten und nutzt dafür vorbereitete schwarze Listen, auch gegen echte und vermeintliche Gegner im Beamtenapparat und der Justiz.
30 der 81 Provinzgouverneure und rund 7900 Polizeioffiziere wurden abgesetzt und entlassen. Für mehr als 2400 Richter und Staatsanwälte sollen Haftbefehle vorliegen, über 150 Angehörige der höchsten Gerichte und zwei Mitglieder des Verfassungsgerichtshofes wurden festgenommen. Diese Hexenjagd richtet sich offiziell gegen mutmaßliche Mitglieder der Bewegung des in den USA lebenden moderaten Islampredigers Fethullah Gülen. Seine Bewegung wurde in der Türkei zur Terrororganisation erklärt.
Erdogan hatte lange eine Allianz mit Gülen gepflegt
Es ist eine Ironie der Geschichte, dass es die Gülenisten waren, die Erdogan einst entscheidend dabei halfen, seine Macht zu festigen und das Militär in seine Schranken zu weisen. Als 2003 ein Politikbann gegen den 49-jährige Instinktpolitiker aus dem Istanbuler Stadtteil Kasimpasa aufgehoben wurde und der Populist 2003 Ministerpräsident der Türkei wurde, stand er vor der Herkulesaufgabe, die Regierung seiner islamisch-konservativen Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) gegen ein Establishment zu behaupten, das Politik, Wirtschaft und Sicherheitsapparat beherrschte: die säkularen Kemalisten, die sich auf den Republikgründer Mustafa Kemal Atatürk berufen. Er hat Glück, dass es der parlamentarischen Opposition in den kommenden 13 Jahren nicht gelingt, einen überzeugenden Gegenentwurf oder -kandidaten zu präsentieren.
Der hünenhafte Erdogan setzt einerseits auf sein Charisma, seine Volkstümlichkeit und seine natürliche Rednergabe, um die unterprivilegierten, frommen Massen anzusprechen. Wichtiger noch ist, dass es ihm gelingt, den Wohlstand der Massen anzuheben. Er sorgt für eine bürgerfreundliche Verwaltung, eine allgemeine Krankenversorgung, modernisiert die Infrastruktur. Und seine AKP verteilt die öffentlichen Gelder anders. Lebensmittel im Fastenmonat Ramadan, Kohle im Winter, Kühlschränke auf den Dörfern. "Dass es uns jetzt besser geht, verdanken wir Erdogan", sagen die Leute, vor allem im Osten des Landes.
Mit gezielten Maßnahmen fördert Erdogan den Aufstieg des "grünen" islamischen Kapitals von Unternehmern aus Zentralanatolien. Ausschreibungen von Großprojekten werden an parteitreue Unternehmer vergeben - gegen Spenden an die Stiftungen des Erdogan-Clans, sagen Kritiker. Das schafft Dankbarkeit und Abhängigkeit. Die Liberalen stellt Erdogan ruhig, indem er zunächst nicht in ihren Lebensstil eingreift, Bürgerrechte stärkt und damit Befürchtungen vor der Errichtung einer "Islamischen Republik" zerstreut.
Als seine Herrschaft gefestigt ist, geht er noch als Ministerpräsident daran, seine innenpolitischen Widersacher zu entmachten: die obersten Gerichte, die Medien. Auf beiden Feldern hilft ihm die strategische Allianz mit der Gülen-Bewegung. Doch Erdogan hat schon früh in seiner politische Karriere erfahren, dass die Armee, die sich traditionell als "Wächter der säkularen Republik" begreift und vier Mal erfolgreich gegen gewählte Regierungen geputscht hat, sein härtester Gegner werden kann. Im Vorfeld der Präsidentenwahl 2007 droht der Generalstab auf seiner Internetseite tatsächlich offen mit einem Eingreifen, um die Kandidatur des AKP-Kandidaten Abdullah Gül zu verhindern. Aber die Mehrheit des Volkes steht hinter Erdogan. Sein Parteifreund Gül wird zum Präsidenten gewählt.
Putschgerüchte nützten für Personalrochaden
Jetzt scheut Erdogan nicht mehr vor einem Machtkampf mit den Militärs zurück, die seine Pläne durchkreuzen wollten. Unter dem Vorwurf, hohe Militärs seien Teil eines geheimen Netzwerks namens Ergenekon und planten den Umsturz der AKP-Regierung, werden 2010 Dutzende Offiziere vor Gericht gestellt und 275 verurteilt. Ankläger und Richter stehen der Gülen-Bewegung nahe. Vor drei Monaten hat der Oberste Gerichtshof zwar sämtliche Urteile aufgehoben, weil der Putschversuch im Prozess nicht habe nachgewiesen werden können. Doch Erdogan nutzt das Verfahren umgehend zu Neubesetzungen im Generalstab. Politische Beobachter gehen damals davon aus, dass er die Generäle damit endgültig in die Kasernen verbannt habe. Der Ministerpräsident kann sich auf der Höhe seiner Macht fühlen.
Doch dann kann Erdogan nicht verhindern, dass sich die Proteste einiger Dutzend Umweltschützer gegen das Fällen von Bäumen im Istanbuler Gezi-Park zu einer landesweiten Revolte gegen seinen zunehmend autoritären Regierungsstil ausweiten. Kaum hat er die Unruhen niedergeschlagen, als Staatsanwälte aus dem Umkreis der Gülen-Bewegung die größte Korruptionsaffäre enthüllen, die die Türkei je erlebte und die Erdogans unmittelbares familiäres und politisches Umfeld betrifft.
Erdogan gelingt es zwar, die Ermittlungen zum "Putschversuch" zu erklären und Gülenisten offiziell als Terrorgruppe einstufen zu lassen. Mehr als 1000 Staatsanwälte und 40.000 Polizeioffiziere werden suspendiert oder versetzt, einige verhaftet, und alle Korruptionsverfahren eingestellt, immer neue Säuberungswellen rollen durch die Republik. Aber sie bleiben Stückwerk, da entlassene Beamte sich wieder einklagen können. Inzwischen ist der immer Erdogan 2014 direkt zum Präsidenten gewählt worden; obwohl es die Verfassung verbietet, bleibt er der starke Mann in der Regierungspartei und im Land; niemand kann es wagen, sich gegen ihn zu stellen. Noch aber kann er die verfassungsrechtlichen Hürden nicht überspringen, um das angepeilte autokratische Präsidialsystem zu erreichen. Die Säuberungen in Justiz, Polizei, Armee und Verwaltung errichten jetzt eine de-facto Exekutivpräsidentschaft, die Erdogan bisher auf dem demokratischen Wege nicht erreichen konnte.