Als Jugendlicher habe ich mich selbst in der Südtirol-Frage engagiert - so, wie viele andere Österreicher auch. Die Südtirol-Frage ist - nach Meyers Enzyklopädischem Lexikon - jene Nationalitätenfrage, die aus der Teilung Tirols nach dem Ersten Weltkrieg und der Angliederung Südtirols an Italien entstand, zumal die Bevölkerung Südtirols damals deutsch mit einer ladinischen Minderheit war. Das Selbstbestimmungsrecht ist den Südtirolern damals nicht zugestanden worden.
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Die Meinung des Dritten Nationalratspräsidenten Graf, den Südtirolern nunmehr (endlich) das Selbstbestimmungsrecht zuzuerkennen, hieße, sie über den Verbleib bei Italien oder die Rückkehr zu Tirol und damit zu Österreich abstimmen zu lassen. Das hat viel Kritik hervorgerufen; zum Teil berechtigte, aber auch unsinnige. Letzteres betrifft die Einstufung der Meinung Grafs als NS-nahe.
Für die Nationalsozialisten war die Südtirol-Frage aber nur ein lästiges Problemchen, das ihre Beziehungen zum faschistischen Italien belastete. Hitler akzeptierte die im Faschismus intensivierte Italienisierung Südtirols und einigte sich bekanntlich mit dem Umsiedlungsvertrag vom 21. Oktober 1939 mit Mussolini auf den rein italienischen Charakter Südtirols. Es gab keinen Minderheitenschutz und wer an seiner Muttersprache festhalten und nicht Italiener werden wollte, musste das Land verlassen. 75.000 der damals etwa 215.000 deutschsprachigen Südtiroler waren bereits "umgesiedelt" worden, ehe die Kriegsereignisse diese Aktion stoppten.
Groß war die Enttäuschung, als den Südtirolern auch nach dem Zweiten Weltkrieg das Selbstbestimmungsrecht wiederum nicht zugestanden wurde. Aber das Selbstbestimmungsrecht ist - wie es ein Schweizer Völkerrechtler einmal ausdrückte - nur Opium fürs Volk und kein wirkliches Recht. Es wird gelegentlich und willkürlich angewandt, wenn es den Großen einmal in den Kram passt. So hat die westliche Staatenwelt zum Beispiel dem serbischen Gebiet Kosovo die Selbstbestimmung zugestanden, nicht aber dem zu Georgien gehörigen Abchasien. Bei Russland wiederum war es genau umgekehrt.
Die Lehre aus der Geschichte: Das Spiel mit dem Selbstbestimmungsrecht kann leicht unrealistische Erwartungen wecken. Die Realität sieht dann meist anders aus und verstärkt eher die Probleme, anstatt sie zu lösen. Und die Moral von der Geschichte: Als damals in der Südtirol-Frage engagierter Jugendlicher habe ich eine deutliche Erinnerung. Der Anspruch auf das Selbstbestimmungsrecht ist eine Sache, die die Südtiroler selbst angeht und sonst niemanden. Sie wollen keine Zurufe (und falsche Erwartungshoffnungen ) aus Wien.
Fazit: Mit NS-Ideologie hat Grafs Wortmeldung nichts zu tun. Mit Realpolitik und sinnvoller Vertretung der Interessen Südtirols aber auch nicht.
Erich Reiter war Sektionschef im Verteidigungsministerium.