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Die Systemfrage ist zurück

Von Walter Hämmerle

Leitartikel
© WZ

Diese Pandemie verändert die Risikokalkulation für unsere globalen Gesellschaften.


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Sich selbst überlassen, verdoppelt sich die Coronavirus-Pandemie alle sechs Tage. Und je mehr Menschen auf das Virus getestet werden, desto mehr Infizierte wird man finden. Wie ein Gesundheitssystem mit dieser Herausforderung umgeht, ist eine Systemfrage.

Das Ziel sämtlicher Maßnahmen ist klar: Es geht jetzt darum, die Infektionskrise bewältigbar zu halten. Das gilt zunächst einmal für die kritische Gesundheitsversorgung, die genug Ressourcen für die stark anwachsende Anzahl ernsthaft erkrankter Patienten bereitstellen muss. Damit das gelingen kann, muss die Ausbreitung eingebremst werden, weil ansonsten jedes Gesundheitssystem durch die schiere Masse an Patienten überfordert wäre.

An diesem Punkt kann die Systemfrage entscheidend werden, und die Menge an Geldmittel zur Bekämpfung der Pandemie gerät zur Nebensache.

Für das Ziel, die Ausbreitung einzudämmen, ist es nötig, dass sich die Menschen schon bei geringem Verdacht einer Infektion testen lassen. Das ist in einem System mit allgemeiner Gesundheitsversicherung weit einfacher und wahrscheinlicher als etwa in einem Land, wo es keine Versicherungspflicht oder Pflichtversicherung gibt. In den USA etwa sind rund 30 Millionen Bürger überhaupt nicht versichert, und etliche mehr müssen für große Teile ihrer Gesundheitskosten selbst aufkommen.

Wer jedoch fürchten muss, dass er danach nicht mehr arbeiten kann, weil er in Quarantäne gesteckt wird, wird sich vielleicht eher nicht testen lassen und damit einer Ausbreitung des Virus Vorschub leisten als jemand, der in bezahlten Krankenstand gehen kann und dessen Behandlungskosten von der Allgemeinheit getragen werden. Die Fortsetzung von Gehaltszahlungen im Krankenstand sorgt zudem dafür, dass die Konsumnachfrage gestärkt bleibt - ein massiver Gegenimpuls für jede Volkswirtschaft in Panik.

Die Idee vom freien, autonomen Bürger, der sich von keinem System und keiner Bürokratie einhegen lässt, hat große Anziehungskraft für freiheitsliebende Menschen, vor allem in den USA, aber durchaus auch für eine Minderheit in Europa. Im analogen Zeitalter waren die Risiken, die damit einhergingen - bei Krankheit, Alter, Arbeitslosigkeit oder auch einfach Pech -, von den Einzelnen zu tragen. Das hat sich, wie diese Pandemie zeigt, grundlegend geändert. Heute trägt die gesamte Gesellschaft das Risiko. Umfassende Sozialversicherungssysteme sind eine Antwort auf die Herausforderungen einer umfassenden Globalisierung. Gesundheit könnte noch ein spannendes Thema im US-Wahlkampf werden.