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Die Tage der Eintracht sind gezählt

Von Alexander U. Mathé aus der Schweiz

Politik

Politische Schlammschlacht hinterlässt üblen Nachgeschmack. | Stimmenanteile dürften sich nicht massiv verschieben. | Bern. Wilde Randale, schwerste persönliche Angriffe und eine sich überschlagende negative Auslandspresse: Wer hätte bis vor kurzem solche Bilder mit der Schweiz assoziiert?


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Doch der eidgenössische Wahlkampf hat sie in den letzten Wochen Realität werden lassen und das, obwohl es bei dem am Sonntag zu kürenden neuen Schweizer Parlament auf den ersten Blick gar nicht nach einer Schicksalswahl aussieht. Die prognostizierten Verschiebungen an Stimmenanteilen bewegen sich im Bereich von zwei Prozent. Trotzdem wird am Sonntag ein ungewöhnlich hoher Anteil der 4,8 Millionen Wahlberechtigten zu den Urnen schreiten.

Nein zur EU

Der Mann, der großteils für diese Mobilisierung verantwortlich ist, heißt Christoph Blocher. Er ist Unternehmer, Justizminister und Frontmann der nationalkonservativen Schweizer Volkspartei (SVP). Er steht für die harte Linie seiner Partei, für die Ausweisung schwer krimineller Ausländer, für den Kampf gegen die Jugendgewalt und für das Nein zur EU. Damit bewegt Blocher die Gemüter der Schweizer wie kaum ein anderer. Seit er die kleine Bauernpartei SVP zur stärksten Fraktion im Land gemacht hat, ist die Beteiligung an den Parlamentswahlen konstant und deutlich gestiegen. Denn ebenso, wie viele Schweizer Blocher ins Herz geschlossen haben, gehen andere nur an die Urnen, um seine Macht zu bremsen. Ein aggressiv geführter Wahlkampf um die Ausweisung krimineller Ausländer und um die Person Blochers hat bei den sonst zurückhaltenden Schweizern die Emotionen hochgehen lassen. Pascal Couchepin, Minister der Freisinnig-Demokratischen Partei (FDP), verglich Blocher mit Mussolini und den Wahlkampf der SVP mit dem Faschismus. Bei einer SVP-Veranstaltung in Bern kam es zu Ausschreitungen zwischen der Polizei und dem linksautonomen Schwarzen Block mit erheblichem Sachschaden und dutzenden Verletzten. Unter den mit der Ernennung der Regierung beauftragten Parlamentariern formiert sich zusehends die Front derer, die Blocher nicht mehr in die Regierung wählen wollen. Und genau hier droht sich die Schweiz endgültig von ihrer Ruhe zu verabschieden, denn der damit ausgelöste Domino-Effekt würde so etwas wie die Vertreibung aus dem politischen Paradies bedeuten.

Die Schweiz hat nämlich ein an Eintracht und Konstanz kaum zu überbietendes politisches System, in dem der Wahlsieger gemeinsam mit den Verlierern regiert. Zauberformel nennen die Schweizer das Verfahren, bei dem allen vier Großparteien automatisch eine gewisse Anzahl an Sitzen in der Regierung gesichert ist (siehe Wissens-Kasten). Nun hat die SVP gedroht, in die Opposition gehen zu wollen, sollte Blocher nicht als Regierungsmitglied bestätigt werden. Mit dem gemeinsamen Regieren wäre es dann vorbei, wenn eine Partei - zumal die stärkste - in die Opposition geht. Besonders haarig wird die Angelegenheit durch die direkte Demokratie der Schweizer. Denn mit ihrem großen Mobilisierungspotential könnte die SVP über Volksabstimmungen Projekte der Regierung zu Fall bringen und dieser auf diese Weise das Leben sehr schwer machen.

Experten glauben jedoch nicht, dass es soweit kommen wird. "Ich halte das für sehr unwahrscheinlich", sagte Lukas Golder vom politischen Forschungsinstitut gfs.Bern im Gespräch mit der "Wiener Zeitung". Viel wahrscheinlicher wäre, dass die Zauberformel neu überdacht wird. Denn während die beiden Spitzenparteien SVP und Sozialdemokraten gemäß ihrer Stärke gerecht je zwei Sitze im siebenköpfigen Bundesrat haben, sieht es im Mittelfeld schon anders aus. Sowohl die FDP als auch die Christdemokraten (CVP) halten nämlich bei rund 15 Prozent der Stimmen. Während jedoch die FDP zwei Sitze in der Regierung stellt, erhält die CVP nur einen. Daher macht sich bei der FDP, die ihren zweiten Sitz davonschwimmen sieht, schon eine gewisse Nervosität breit. Auf der Suche nach einem Ausweg will Couchepin sogar eine Fusion der beiden Parteien anstreben.

Grüne ohne Sitz

Hat die FDP vom Kräfteverhältnis her einen Sitz zu viel, so haben die Grünen einen zu wenig: nämlich gar keinen. Ändern wird sich das voraussichtlich nicht, auch wenn sie bei den Wahlen das prognostizierte Rekordergebnis von über 10 Prozent einfahren sollten. Denn die Grünen haben bereits erklärt, nicht in die Regierung zu wollen, solange dort die SVP vertreten ist. Am wahrscheinlichsten ist, dass man die bestehende Zauberformel belässt wie sie ist, denn schnelle Systemwechsel sind nun wirklich nicht Sache der Schweiz. Schließlich ist die Zauberformel erst einmal geändert worden und da hat die SVP zweimal hintereinander stärkste Partei sein müssen, bevor ihr ein weiterer Regierungssitz zugestanden wurde.

Viel wird sich aller Voraussicht nach trotz der verhärteten Fronten nicht ändern. Was indes bleiben wird, ist der Nachgeschmack einer politischen Schlammschlacht, der so manchem Politiker künftig auch im Falle einer einträchtigen Regierung bitter aufstoßen wird.

Zauberformel

Seit 1959 setzt sich die siebenköpfige schweizerische Bundesregierung (Bundesrat) im Sinne der eidgenössischen Konkordanzdemokratie aus Vertretern der vier stärksten Parlamentsparteien zusammen. Bis 2003 lautete die traditionelle Sitzverteilung: CVP, FDP und SP je zwei, SVP einen. Diese Zauberformel beruhte zu keiner Zeit auf einer rechtlichen Bestimmung, sondern auf dem allgemeinen Parteienkonsens.

Als die SVP 2003 als stärkste Fraktion aus den Wahlen hervorging, drohte sie mit dem Gang in die Opposition, falls ihr nicht ein zweiter Bundesratssitz zuerkannt würde. In der Folge verlor die CVP einen Sitz an die Volkspartei. Damit wurde die traditionelle Zauberformel gesprengt und durch eine "neue Zauberformel" ersetzt.