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Moskau · Knapp acht Monate nach seinem Amtsantritt scheinen die Tage des russischen Regierungschefs Jewgeni Primakow gezählt. Der 69jährige, der erst nach mühsamem Tauziehen zwischen | Präsident Boris Jelzin und der Duma ins Amt gehievt worden war, scheint auf der "Abschußliste" seines Staatschefs einen prominenten Platz einzunehmen.
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"Jelzin und die Führung bereiten sich auf Primakows Ende vor", spekulierte zuletzt am Wochenende die "Moscow Times" auf der Titelseite. Immer mehr häufen sich die öffentlichen
Demütigungen, die Jelzin seinem Regierungschef zufügt. Zuletzt änderte Jelzin in der Vorwoche bei einer Sitzung mit der Regierung mit barschen Worten willkürlich die Sitzordnung und veränderte damit
vor laufenden Fernsehkameras demonstrativ die eigentliche Rangordnung. Primakow reagierte auf diese Machtdemonstration mit stoischem Gleichmut.
Wenige Tage zuvor hatte Jelzin überraschend den Ersten Stellvertretenden Ministerpräsidenten Wadim Gustow grundlos entlassen und an seine Stelle Innenminister Sergej Stepaschin gesetzt. Diese
"Beförderung" des als Gefolgsmann Jelzins geltenden Mannes gab wiederum Anlaß zu Spekulationen in den russischen Medien, daß der Präsident bereits Pläne für die "Zeit nach Primakow"
verwirkliche.
Ein stichhaltiger Grund für die eventuelle Entlassung Primakows wäre allerdings nicht ersichtlich. Als zuverlässig geltende Quellen im Umfeld des Präsidenten deuteten jedoch an, daß ausschließlich
"persönliche Gründe" im Spiel seien. "Er hat einfach so einen Charakter", heißt es im Kreml lapidar. "Er ist uns nützlich" war auch das höchste Kompliment, das sich Jelzin für Primakow abringen
konnte. Immerhin hatte der Premier in den vergangenen Monaten für innenpolitische Stabilität gesorgt, aber keine Maßnahmen für den wirtschaftlichen Ausbau des Landes ergriffen.
Primakow selbst nimmt die Gerüchte über eine mögliche Entlassung gelassen hin. "Ich klebe nicht am Sessel des Regierungschefs", sagte er zuletzt im April in einer überraschend angesetzten
Erklärung im Fernsehen, als sich die Gerüchte wieder einmal verdichtet hatten. "Heute bin ich nützlich, morgen werden wir sehen."
"Kein Regierungschef ist unersetzlich, auch nicht Primakow", betonte der stellvertretende Kreml-Stabschef Oleg Syssujew in der Vorwoche. Damit konkretisierte er aber nach Ansicht von Beobachtern die
Spekulationen über den Wechsel an der Spitze der russischen Regierung. Für Beobachter schien sich die zweite Hälfte des Mai als Zeitpunkt für die mögliche Trennung Jelzins von Primakow abzuzeichnen.
Denn am 13. Mai will die Duma erneut zusammentreten, um über das seit langem erörterte Amtsenthebungsverfahren gegen Präsident Jelzin zu entscheiden.
Und sollte das Parlament für die Einleitung des komplizierten, allerdings wenig aussichtsreichen Verfahrens gegen den Präsidenten stimmen, könnte dies den Anlaß für die Entlassung Primakows geben.
Denn gerade die kommunistisch beherrschte Duma hatte Jelzin im Vorjahr praktisch gezwungen, Primakow überhaupt ins Spiel zu bringen.